Helmut H. Schulz
Das Erbe
Roman einer Familie
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut H. Schulz Das Erbe Roman einer Familie Dieses ebook wurde erstellt bei
Erstes Buch Der Angriff
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Zweites Buch Führungswechsel
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Drittes Buch Die Falle
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Nachtrag
Impressum neobooks
1902
Kurz nach der Jahrhundertwende strebt ein Pilgramer nach Berlin. - Er ist jung, etwas über zwanzig, und er verfügt über eine Kraftreserve, die den Pilgramers sonst nicht eigen ist. Während dieser vorerst letzte Pilgramer reist, mit Bahn und zu Fuß, steckt er im Geist seine Möglichkeiten ab. Daheim in der Kleinstadt wartet ein winziges Baugeschäft auf den Nachfolger, aber es gibt nichts mehr zu bauen. Das schlesische Provinznest verschläft die Zeit. Und der junge Mann hat eine gute Ausbildung genossen, eine zu gute für das Kaff und ganz ungewöhnlich für die Zeit und für die soziale Schicht, der er entstammt, biederen Maurermeistern, die mit einem Gesellen und einem Hucker Wohnhäuser errichteten, sich ernährten, allmählich zu einem gewissen Wohlstand gelangten.
Pilgramer hat studiert. München kennt er und Italien, er ist ein begabter Zeichner, er kann nachempfinden, die Linien eines Bauwerkes teilen sich ihm rasch mit, er kann auch ausdenken und umsetzen. Das ist seine Reserve: Ab jetzt werden die Pilgramers von Maurern zu Baumeistern avancieren, kein Pilgramer wird mehr Kelle und Waage in die Hand nehmen, Zirkel und Reißschiene lösen sie ab.
Draußen gleiten die Schatten der Bäume vorbei, im Zugabteil hat der Schaffner die Lampe gelöscht. Es wird hell in östlicher Richtung. Pilgramer sitzt in eine Abteilecke zurückgelehnt.
In Berlin, heißt es, schießen die Bauten nur so aus der Erde. Aus den Provinzen des Deutschen Reiches ergießen sich Menschenströme in die Hauptstadt. Berlin nimmt alle auf, gibt ihnen Brot, Arbeit; einen Pilgramer soll die Stadt reich und berühmt machen. Pilgramer ist ganz sicher, daß er sein Ziel erreichen wird, vielleicht nicht auf Anhieb, aber langsam, Zug um Zug. Noch eine Reserve: Er will arbeiten, er will mehr arbeiten als andere, er dünkt sich etwas Besseres als andere. Zwar lernte er im väterlichen Betrieb Handwerk, lernte schwere körperliche Arbeit kennen, aber er durfte auch eine gute Gewerbeschule besuchen. Dem Vater dieses letzten Pilgramer dämmerte beizeiten, daß mit dem soliden alten Handwerk und seinem goldenen Boden nicht mehr allzu viel los war. Deshalb baute er dem Sohn eine Treppe nach oben. Gehen muß der junge Mann seinen Weg allein. Statt der Wanderjahre, die der künftige Meister eigentlich zu absolvieren gehabt hätte, ging Pilgramer nach der Gewerbeschule zur Akademie. An der Gewerbeschule wurde sein Zeichentalent entdeckt, gefördert, dem jungen Mann wurden Rosinen in den Kopf gesetzt:
Ich werde ein großer Architekt, ich werde berühmt, die Auftraggeber reißen sich um meine Entwürfe, ich werde Mitglied der Akademie, ich werde Professor, ich heirate eine Frau aus den besten Kreisen, reich, schön und jung. Ihr baue ich einen Palast, so wie er mir vorschwebt, aus weißem Marmor, mit Brunnen und Gärten, einen Traum. Ich habe Kinder, Söhne und Töchter. Ich werde vom Kaiser empfangen, Talent adelt seine Träger. Ich bleibe immer der, der ich bin, ich werde sehr lange leben, ich werde meine Frau überleben und meine Enkel und Urenkel heranwachsen sehen, ich, ein großer alter Mann: Und das ist die dritte Reserve Pilgramers: seine Phantasie, seine unbändige Einbildungskraft.
An jenem grauen Morgen steigt er um, die Bahnhöfe werden kleiner, die Ortschaften unansehnlicher. Er kommt aus großen Städten, aus Metropolen, er haßt diese grauen zurückgebliebenen Städte. Zuletzt fährt er eine Wegstunde mit einem Bauernwagen, läßt seitwärts die Beine herausbaumeln, bekämpft seine üble Laune. Der Wagen hält vor dem Vaterhaus; es ist dem jungen Mann fremd geworden. Als er durch die Tür tritt, empfängt ihn der muffige Geruch ungelüfteter Zimmer, feuchter Keller. Mutter und Schwester eilen dem Sohn und Bruder entgegen. Der Vater folgt langsam.
Es ist Wochentag. Obgleich der Sohn und Bruder zurückerwartet wurde, ißt die Familie in der Küche. Sie ist geheizt, getrunken wird Malzkaffee mit einem Schuß Kuhmilch, gegessen wird altes hartes Brot und Pflaumenmus. So ähnlich mag das erste Frühstück der Pilgramers immer ausgesehen haben, trübe, karg, von Geiz zeugend. Aber so wurde auch Pfennig zu Pfennig gelegt; jetzt Goldmark auf einer Bank. Für einen Moment ist Pilgramer seinen Eltern dankbar, dem müden und gebeugten Maurermeister, der alten Frau, und sogar der·Schwester; er wird sich bewußt, daß sie alle schwere Opfer gebracht haben, seinetwillen.
Er ist bewegt, schweigt, verschiebt das Gespräch mit dem Vater von Tag zu Tag. Schließlich muß er reden. Und während er redet, bricht das Feuer in ihm durch, treibt seine Phantasie Blasen. Der junge Mann will sein väterliches Erbe ausgezahlt bekommen, er schwört hoch und heilig, nie wieder etwas zu fordern, er droht, für immer wegzugehen, mit der Familie zu brechen, er verspricht noch mehr und droht Schlimmeres an. Er weiß genau, gibt er jetzt nach, erleidet er eine erste Niederlage, wird er in dem Kaff hängen bleiben.
Was den Vater umstimmt, ist eine Tatsache, die der alte Handwerksmeister anerkennen muß: Es hat keinen Sinn, einen jungen Mann zum Baumeister zu machen, um ihn danach in einer Kleinstadt anzubinden. Ein neues Opfer muß gebracht werden. Von Geld trennt sich der alte Mann schwer, noch schwerer vielleicht als von dem Sohn. Ein erster Sieg.
Der junge Mann fiebert der Verwirklichung seines Traumes entgegen. Er kann die Aufbruchsstunde kaum erwarten, nichts hält ihn hier. Bei der letzten Unterredung mit dem Vater reicht ihm der Alte, neben guten Wünschen und Ermahnungen, neben trüben Prognosen und der Versicherung, der Sohn könne jederzeit zurückkehren, ein Schreiben über den Tisch. Der Brief ist an einen Regierungsbaurat Straßburger gerichtet, er wird in diesen Tagen abgehen. Mit Straßburger hat der alte Meister gelernt, der ist rasch was geworden, er wird dem Sohn des einstigen Lehrkollegen weiterhelfen, falls er kann. Er wird können, und er wird wollen. Bargeld bekommt der junge Mann nicht in die Hand, aber einen Scheck, der freilich nur im Ganzen eingelöst werden kann. Soviel Mißtrauen ist in dem Alten. Der Sohn war draußen, man sieht ihm die Veränderung an. Er ist ein verbummelter Student, ein Künstler, der Vater bewundert seinen Sohn, aber zwischen Vater und Sohn ist eine Mauer gewachsen. Beide fühlen, sie können nicht mehr weiter miteinander gehen.
Von Mutter, und Schwester ist der Abschied schwerer. Und vor ihnen kann sich der junge Mann eher offenbaren, ihnen verspricht er goldene Berge. So hoch griff diese Bürgerschicht noch nie, jetzt wird Mutter und Schwester ein neues Bewußtsein durch den Sohn vermittelt: Mit Geld ist alles erreichbar. Wenn man ein Palais bezahlen kann, darf man es auch bewohnen, es gibt keinerlei Schranken mehr zwischen diesen gesellschaftlichen Schichten. Das leuchtet den Frauen nur zu rasch ein.
Was ist aus dem Sohn und Bruder geworden; aus dem dummen Provinzler? Ein Gaukler, ein Lügner, ein Weltmann, der Geld ausgibt, ohne zu fragen, woher es kommt? Doch wohl nicht. Er will ja was, will was werden und will was sein, ist berauscht von seiner Jugend und von seiner Kraft.
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