„Das ist natürlich klar“, antwortet die jetzt in ein langes schwarzes Kleid gehüllte Frau. „Sie können sich freilich ganz auf mich verlassen. Darf ich aber nun einen Blick hineinwerfen?“
„Schauen Sie nur, Sie werden auf die Dinge ab sofort ohnehin Zugriff haben.“ Sigrun nahm den ersten Hefter und blätterte die Seiten vorsichtig auf. Pergamente und Blaupausen mit teilweise offenbar sehr alten und neueren Skizzen und Zeichnungen befanden sich darin. Alle trugen die bekannten Stempel: „Geheime Kommandosache“ und „Streng geheim“. Es waren zum überwiegenden Teil alles Ausschnitte alter Landkarten und neuzeitlicher Meßtischblätter, in denen genauestens die Zugänge zu den der Allgemeinheit völlig unbekannten Höhlensystemen eingetragen waren. Jedes der Systeme war hier zudem mit einem Tarnnamen bezeichnet worden. Am Ende der Akte standen dann diese alphabetisch aufgeschlüsselt und mit der jeweiligen Seitenzahl versehen, ähnlich einem Inhaltsverzeichnis. Sigrun überflog kurz die Seiten. Ihre staunenden Augen huschten dabei über geographische Bezeichnungen wie Schwäbische Alb, Harz, Ammergebirge, Helgoland, Thüringer Wald, Feldberg und andere. Ein weiterer Hefter enthielt eine Reihe technischer Zeichnungen, die exakte Darstellungen bestimmter Untergrundanlagen und der dort befindlichen technischen Einrichtungen zeigten. Alles war penibel sauber und übersichtlich abgeheftet. Selbst ein Außenstehender hätte kein Problem, sich schnell eine Übersicht zu verschaffen und sich darin zurechtzufinden. Besonders bemerkenswert waren die älteren Fotos, die sich in beiden Heftern befanden. Auf den Bildern, ebenfalls immer den einzelnen Objekten zugeordnet, waren so zum einen Details der geheimen Zugänge in der Landschaft erkennbar. In einer anderen Sammlung, wo das Innere der Systeme dargestellt wurde, gab es Bilder, die technische Einrichtungen, Räume und ähnliches abbildeten.
„Die ist die eine Sache“, sagte von Trauenfeld. „Hier geht es weiter. In diesem dritten Ordner liegen alle schon vorhandenen Berichte und Informationen, die unsere angestrebte Aufgabe betreffen.“ Dieser Abheftung war dann die dünnsten von allen. Sie enthielt einen ersten Flugbericht, der jedoch keine präzisen Positionsangaben beinhaltete. Da waren aber auch eine ganze Reihe phantastisch anmutender Photos, die - aus geringer Höhe aufgenommen - die fremdartige Oberfläche des Roten Planeten zeigten und ruinenhafte Gebilde, die vom Sand teil schon fast zugeweht waren.
„Und genau hier liegt der Kern des Rätsels begraben. In irgendeinem dieser uralten Bauwerke ist die geheime Kammer, in der sich die Information über den Weg zum begehrten magischen ‚Schwarzlila Stein‘ befindet. Zu ihm müssen wir wieder Zugang erhalten. Dies bedeutet, diese Information zu finden, sie zu bergen und sie zurück auf die Erde schaffen. Dann, nach seiner Auffindung, muß die Versammlung zum rechten Zeitpunkt einberufen und die alten, überlieferten Rituale vorgenommen werden. Erst dann werden wir über die Kräfte verfügen, die diese herrschende, geradezu satanische Finsternis von der Erde und ihrer Menschheit vertreibt. Wir müssen unseren Gegnern zuvorkommen, denn auch die haben Kenntnis, daß dem Stein ungeahnte Kräfte innewohnen. Sie wissen zwar nichts mit ihm anzufangen, da sie nicht die geheimen magischen Rituale unsere Altvorderen kennen, aber sie können ihn unserem Zugriff entziehen, was eine Katastrophe wäre. Doch es wird alles nicht so einfach sein, wie ich es gerade in kurzen Worten sagte. Unsere Gegner werden sich wehren, mit allen nur möglichen Mitteln. Und ich sehe leider auch deutlich, daß es unserem Kreis teure Opfer kosten wird. Ich werde zu dieser Zeit schon nicht mehr unter Euch weilen ...“ Sigrun sah den alten Herren fragend an: „Ist es so schlimm?“
„Nein, schlimm nicht. Es ist einfach das Alter und ich bin sehr krank. Belassen wir es dabei, Sigrun. Die Wesenheit Isais möge mit Ihnen sein. Ihren Stein brauchen wir aber wieder hier auf Erden. Und das möglichst schnell.“
Die beiden trafen noch einige Absprachen. Von Trauenfeld machte die Frau so auch mit dem Zugangskennwort und seiner Handhabung zum versteckten Tresor vertraut und gab ihr noch einige andere Informationen. Es war schon Nachmittag, als auch Sigrun „Schwarzeck“ verließ und mit ihrem schnellen, kleinen Auto zurück Richtung Norden fuhr.
Wolf hatte per Eisenbahn unbehelligt die Grenze passiert und näherte sich nun wieder seiner Heimat. Draußen zogen die vertrauten flachen Landstriche vor den schmutzigen Fenstern des Abteils vorbei. Seine Gedanken weilten bei Sabine. Er hatte sie vom Grenzbahnhof aus anrufen wollen. Zu seinem Erstaunen und Beunruhigung ging aber niemand an den Apparat. Er versuchte es mehrfach, doch es stellte sich kein Erfolg ein. Vielleicht war sie gerade mal in der Stadt, um irgendeine Besorgung zu erledigen, versuchte er sich zu beruhigen. Dennoch blieb ein ungutes Gefühl. So kam es, daß er nun immer mehr der Ankunft auf dem Frankfurter Hauptbahnhof entgegenfieberte. Gleich von dort aus wollte er es nochmals versuchen, noch ehe er Rechtsanwalt Meurat verständigte. Es dauerte aber doch noch eine Stunde, ehe der Zug langsam rumpelnd über das Gleisgewirr schließlich in der Bahnhofshalle einfuhr. Er stand noch nicht ganz als Wolf die Tür aufriß, absprang und eiligst in Richtung der Empfangshalle rannte. Nur den alten Rucksack auf seinen Rücken hielt er an den Schulterriemen immer mit einer Hand gut fest. Erneut warf er Münzen in den Telefonapparat, doch wieder ging nur der lange Rufton nach draußen. Es meldete sich niemand. ‚Sie müßte doch aber schon lange zurück sein‘, ging es ihm zunehmend besorgt durch den Sinn. Er versuchte es noch einmal, vergeblich, dann verließ er den Bahnhof und eilte zum Taxistand. Wieder mußte er warten. Wie immer war kein Fahrzeug sofort zur Verfügung. Endlich kam eine schwarze Limousine angerollt. Der Fahrer machte einen müden, griesgrämigen Eindruck. „Was, bis da raus?“ fragte er mürrisch. „Da habe ich doch inzwischen schon fast Feierabend“. Erst ein zugesteckter Geldschein besänftigte etwas und ließ ihn endlich das Fahrzeug in Bewegung setzen. Dann fuhr er aber auch wie ein Teufel durch die Stadt; nahm nach Wolfs Hinweisen mehrere Abkürzungen, und eine dreiviertel Stunde später rumpelte der Wagen über den einsamen Weg zu dem Hof vor den dunklen Waldrändern. Wolf zahlte eilig, wobei er noch ein gutes Trinkgeld gab, dann rannte er auf das Haus zu, das hinter den Gartenzäunen und Hecken sich hier in aller Stille erhob.
„Sabine, ich bin wieder da!“ rief er laut. Doch nichts rührte sich. Aber ihr kleines Auto stand in der offenen Scheune neben dem Hof. Also mußte sie da sein. Wolf drückte die Türklinke, die auch sofort nachgab. Knarrend öffnete sich die Haustür. „Sabine ...?“ Seine Stimme fand keine Antwort. Es war draußen inzwischen schon fast dämmrig geworden, so daß die Zimmer in ein düsteres Licht getaucht waren. Die Küche zeigte sich leer. Aber auf dem Küchentisch lagen Einkäufe verteilt und offenbar hatte Sabine begonnen, gerade ein Abendbrot vorzubereiten. Neben dem Messer lagen geschälte Zwiebeln und Kartoffeln. Ein mit Wasser gefüllter Topf stand bereit, und unter dem Herd stapelte sich ein Häufchen frisches Holz. Er fand Sabine aber trotz aller Absuche nicht.
Wolf vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, als er in die Wirklichkeit zurückfand. Draußen war es mittlerweile völlig dunkel geworden. Der Wind strich rauschend um die nahen Bäume, und in der Scheune nebenan schlug ständig eine wohl offenstehende Tür klappend hin und her. Wie betäubt erhob er sich endlich. Sabine war verschwunden. Ihre Entführer hatten dabei weder Geld noch Gut gesucht. Und es war kein gewöhnlicher Überfall gewesen. Für ihn gab es sogar eine Nachricht. Sie steckte in Sabines alter Schreibmaschine. Das weiße Blatt Papier ragte überdeutlich hervor, so daß Wolf es unbedingt finden mußte. Auf dem Blatt waren nur wenige Zeilen getippt worden.
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