1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 »Hallo«, sagt Pål.
»Na, Edith«, sagt Hans Holstein, nachdem er Pål kurz zugenickt hat. »Da schleppst du also einen jungen Mann an.«
Das hört sich an wie eine unschuldige Feststellung einer überprüfbaren Tatsache, während es in Wirklichkeit eine Beleidigung ist, hervorgerufen zum einen durch die Eifersucht, die in Holstein aufkeimte, als er Edith Rinkel mit Pål munter ins Gespräch vertieft sah, und zum anderen durch den unangenehmen Druck in Holsteins Bauch. Edith Rinkel erstarrt sofort zu stummer Unnahbarkeit. Holstein klopft auf den Stuhl neben seinem, Pål setzt sich, während Rinkel schräg gegenüber von ihnen Platz nimmt.
Holstein redet angeregt über Österreich und ein Phonemseminar in Salzburg, das er in seiner Jugend besucht hat. »Aber jetzt war ich schon lange nicht mehr auf Reisen«, vertraut er Pål an und unterdrückt diskret einen Rülpser, schluckt ein Stück Lasagne hinunter, das mit einer Portion Magensäure nach oben wandern wollte. Seine Augen quellen hervor und sind rot unterlaufen.
»Denn nicht alle dürfen so viel verreisen wie manch andere, weißt du?«, sagt er dann und schielt bedeutungsvoll zu Rinkel hinüber. »Einen Schluck Wein?«
»Nein, lieber nicht«, sagt Pål.
Holstein redet von Salzburger Kuchenspezialitäten.
»Die heißen alle irgendwas mit Mozart und sind überzogen mit Marzipan und Schokolade. Leider hatte ich Verstopfung, vom ersten bis zum letzten Konditoreibesuch. Phonetik und Flatulenz!«
Holstein kichert und ändert seine Beinhaltung. Pål lächelt höflich. Rinkel liest demonstrativ schweigend die Zeitung.
»Ich muss diesmal wohl ein bisschen vorsichtiger sein«, sagt Holstein, zupft sein Seidentuch zurecht und liebkost seinen Bauch.
Pål und Rinkel haben zusammen eingecheckt und sitzen deshalb nebeneinander. »Ja, manche wissen eben, wie man es sich gut gehen lässt«, sagt Holstein heiter, als er auf dem Weg zu seinem Platz an ihnen vorbeigeht.
Rinkel sitzt am Fenster, genau wie im Zug. Pål bringt mühsam seine langen Beine unter und lächelt Rinkel an, die ihn zwei Sekunden lang mustert, ohne das Lächeln zu erwidern, ihre Zeitung auspackt und weiterliest. Pål versucht mehrere Male, den Gesprächsfaden aus dem Zug wieder aufzunehmen, wird jedoch mit höflichen, aber unverkennbar abweisenden Bemerkungen abgespeist.
Pål fühlt sich unwohl aus Zorn und Nervosität – vielleicht vor allem, weil er das Gefühl hat, dass er sich die Gemeinsamkeiten, die er auf der Zugfahrt doch wahrgenommen zu haben glaubte, offenbar nur eingebildet hatte. Es ist so, als überreiche man ein sorgfältig ausgewähltes Geschenk, das der Empfänger auf den Boden wirft, wobei er sich nicht einmal die Mühe macht, es auszuwickeln. Pål ist es nicht gewohnt, dass die Menschen in seiner Nähe, vor allem die Frauen, es nicht zu schätzen wissen, was er zu bieten hat.
Nein, Pål Bentzen fühlt sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Er weiß, dass er übertreibt, dass sie nicht ahnen kann, dass das hier für ihn mehr war als ein höfliches kollegiales Geplauder, etwas anderes als sein üblicher galanter Wortstrom. Er hatte geglaubt, die Entstehung einer Freundschaft zu erleben, vielleicht sogar den zarten Ansatz eines Flirts. Er ist wütend, weil er verletzt ist, bloßgestellt in seiner Naivität, und weil nichts ihn so wütend macht wie das Gefühl, sich blamiert zu haben. Er wird nervös, denn er sitzt immerhin neben seiner Vorgesetzten, einer Person, zu der er ein gutes Verhältnis haben muss, einer Person, die die Macht hat, ihm nur langweilige Aufgaben zuzuteilen, einer Person, die die Macht hat, seine Stelle zu verlängern, ihn zu feuern oder ihn für eine Festanstellung vorzuschlagen.
Sie macht ihm Angst. Schon lange, bevor er den Posten bei der Futling bekam, hatte er Geschichten über Rinkel gehört. Angeblich ist sie zu allem fähig.
Pål glaubt diese Geschichten jetzt. Es hat mit dem gelben Glühen in ihren viel zu hellen Augen zu tun, mit ihrem geraden Nacken. Rinkel ist eine Frau, zu der er sich hingezogen fühlt, eine Frau, an die er oft denkt, die er in Gedanken ausgezogen hat, obwohl sie seine Vorgesetzte ist, obwohl sie an die zwanzig Jahre älter ist. Obwohl sie ihm Angst macht. Oder vielleicht gerade deshalb.
Auf dem Flug von Oslo nach Wien brachte ihre distanzierte Nähe ihn dazu, an ein idiotisches Detail zu denken, wieder und immer wieder. Wie so oft in solchen Situationen verhielt es sich so: Je mehr er sich darauf konzentrierte, nicht daran zu denken, desto mehr beschäftigte sich sein Gehirn damit. Das, woran Pål so intensiv nicht zu denken versuchte, war in Wahrheit etwas ziemlich Törichtes, ein offen gestanden albernes und kleines Problem, für das man keine Zeit verschwenden sollte. Es ging um den linguistischen Terminus, den Fachausdruck, für ein sprachliches Phänomen. Pål wusste, dass er ihn kannte, er fiel ihm nur nicht ein. Wir sagen auf Norwegisch østerisk , dachte Pål, niemand sagt østerriksk . Das ist, als ob die Deutschen österisch statt österreichisch sagten. Normale Ostnorweger mit normalem Sprechtempo benutzten østerisk. Østerisk . Ist das eine Haplologie? Nein, das kann es nicht sein, denn dann müssten doch zwei gleichlautende Silben verschmelzen, wie in Zauberin statt Zaubererin . Ist es eine Elision? Eine Metathese? Eine Assimilation? Es ist eine Konsonantenvereinfachung, statt -ksk sagen wir nur -sk. Nennt man das Delision? Er konnte es nicht lassen, er konnte seine Gedanken von dieser Frage einfach nicht ablenken, aber eine Antwort fand er nicht. Später fiel ihm ein, dass es vermutlich gar keine klare Antwort gab.
Von Wien nach Graz reisten sie mit einer österreichischen Propellermaschine. Das Flugzeug war winzig klein, Pål hatte kaum Platz für seine Beine, der Zwischenraum zum Vordersitz war so eng, dass er die Oberschenkel in einem steilen Winkel anziehen musste. Es waren nicht besonders viele Passagiere an Bord, trotzdem gab es drei Stewardessen. Alle waren ungeheuer groß – oder vielleicht wirkten sie nur so, weil das Flugzeug so klein war –, die Decke war niedrig, der Mittelgang zog sich als schmaler Strich durch die Maschine. Die Stewardessen waren jedenfalls sehr üppig, und sie trugen etwas, das aussah wie österreichische Trachten, aus dickem roten Filz mit Röcken, die unter der Taille bauschten wie Fallschirme. Die Stewardessen mussten ihre weiten Röcke praktisch durch den Mittelgang quetschen. Sie trugen geblümte Mieder und weiße, tief ausgeschnittene Blusen mit Puffärmeln, die in der Mitte der kräftigen sommersprossigen Oberarme endeten. Auf dem Kopf trugen sie unter dem Kinn gebundene Kopftücher, und alle drei hatten rote Apfelbäckchen und große lächelnde Münder. Eine nach der anderen beugte sich zu Pål hinunter, der neben der stummen, Zeitung lesenden Rinkel saß; ihre riesigen Brüste schienen aus ihren Ausschnitten quellen und in Påls Schoß fallen zu wollen, und die lächelnden Münder berührten fast sein Gesicht. Die Münder sagten etwas, das Pål nicht verstand, während ihre großen Augen ihn fragend anblickten. »N-nein, d-d-danke«, stotterte Pål jedes Mal, und jedes Mal wurde sein Hals trockener, während Edith Rinkel – dreimal – eine Hand ausstreckte, einige Worte in reizendem Deutsch sagte und jedes Mal ein Plastikglas mit einer Flüssigkeit in Empfang nahm, in der Eiswürfel klirrten. Und jedes Mal sank Pål tiefer in seinen Sitz, der mit fransigem beigen Stoff bezogen war, und er hatte das Gefühl, dass seine Haut Struktur und Farbe dieses Stoffes annahm.
Viele Jahre waren vergangen, seit Pål das letzte Mal die Chamäleontendenzen seiner Jugendjahre so deutlich gespürt hatte. Auf diesen beiden Flügen zum Kongress in Österreich fühlte sich Pål so unbeholfen und nervös wie in seiner Jugend, und er fragte sich, warum Rinkel eine so starke Wirkung auf ihn hatte. Er weiß natürlich, dass das mit Autoritäten zu tun hat, dass Menschen mit Macht und Position den kleinen Jungen in ihm wecken, sodass er die Gefühle von früher wieder empfindet: Wut, Scham, Ohnmacht. Den Wunsch zu verschwinden, nicht mehr da zu sein, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Er sitzt neben ihr und ist sich dessen äußerst bewusst, zugleich kommt ihm das alles unwirklich vor, als seien sie beide nicht dort. Hatte er auf der folgenden Busfahrt sein Getränk über ihre Knie verschüttet, oder hatte er nur solche Angst davor gehabt, dass es jetzt wie eine echte Erinnerung wirkte? Pål hatte keine Ahnung.
Читать дальше