Jack Mills ist einer der wenigen Linguisten, die auch unter Nichtlinguisten bekannt sind. Wenn Påls Mutter erklären soll, was ihr Sohn eigentlich macht, was ein Linguist ist, dann verweist sie oft auf Mills. »So einer wie Jack Mills, wisst ihr.« »Aha«, heißt es dann, »so einer wie Jack Mills.« Und wenn es Frauen sind, sagen sie: »Aha, so einer wie Jack Mills, dieser gutaussehende Amerikaner? The handsome Jack Mills? « »Genau«, antwortet die Mutter. Jack Mills tritt oft im Fernsehen auf, wird in den Zeitungen zitiert, und es gibt nur selten eine Examensaufgabe, in der nicht wenigstens eines oder zwei seiner Bücher in der Bibliografie erscheint. Mit anderen Worten ist Mills einer, den die Sprachwissenschaftler gern verachten. »Der hat doch in den letzten acht oder zehn Jahren gar nicht mehr richtig geforscht«, wird gemurmelt. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass Adam’s Heritage ein ziemliches Leichtgewicht ist. Trotzdem ist Mills ein ungeheuer populärer Referent. Wenn er wollte – und bis zu einem gewissen Grad will er das ja auch –, könnte er von Kongress zu Kongress reisen, alle Ausgaben bezahlt bekommen, und mit einer riesigen Bewunderinnenschar im Schlepptau, denkt Pål nicht ohne Neid.
Mills ist Anfang fünfzig. Er ist auffällig braun gebrannt, und seine grauen Haare sind aus der Stirn gestrichen. Er ist groß, mindestens zwei, drei, vier Zentimeter größer als Pål. Pål ist auch groß, gewohnt, die meisten anderen zu überragen, gewohnt, auf andere Menschen hinabzublicken, durchaus nicht in übertragenem Sinn, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. (Aber wenn wir für einen Moment an Lacans und Lakoffs Metapherntheorie denken, stellen wir fest, dass es wohl kaum ein Zufall ist, dass viele Sprachen Ausdrücke haben wie auf andere herabsehen, herabwürdigend, zu jemandem aufschauen, die Oberhand behalten .)
Mills hat die Angewohnheit, den Kopf ein wenig in den Nacken zu legen und das Kinn hochzuheben. Aber zugleich hält er den Kopf schräg wie ein freundliches Eichhörnchen und lächelt aufmerksam auf sein Gegenüber herab. Eine perfekte Balance zwischen Macht und Herablassung, Freundlichkeit und Jovialität, ein Balanceakt, den Mills jahrelang trainieren musste, den er jetzt aber bis zur Vollkommenheit beherrscht.
Um den tadellos gekleideten Mills in einem anthrazitgrauen Anzug scharen sich vier Frauen. Eine ist eine aufsehenerregend schöne Blondine, groß, mit langen Beinen. Sie trägt ein blassgrünes Sommerkleid mit freiem Rücken. Sie heißt Lone Husgaard-Jensen und unterrichtet an der Universität Kopenhagen. Zufällig weiß Pål, dass ihr Körper ohne Kleider mindestens ebenso hinreißend aussieht, denner war mit ihr im Bett letztes Jahrwährend eines Seminars in Århus, unmittelbar bevor Pål Siri kennengelernt hatte. Neben Lone steht eine fast ebenso hübsche Brünette, Pål erkennt sie wieder, sie ist Computerlinguistin an der Handelshochschule in Kopenhagen, die vor Kurzem erst eingestellt wurde und deren Namen ihm nicht einfällt. Etwas abseits, aber mit einem Blick, der Mills’ Gesicht nicht für eine einzige Sekunde loslässt, steht eine weitere Blonde, die in Påls Augen deutsch aussieht (später wird es sich bestätigen, dass seine Nationalitäteneinschätzung in diesem Punkt absolut korrekt war) und die er noch nie zuvor gesehen hat. Und Edith Rinkel. Sie steht dicht neben Mills. Aus Påls Perspektive sieht es aus, als stehe sie fast unter seinem Arm, in dem Winkel zwischen dem Oberarm, den er immer wieder hebt, während er redet und gestikuliert, und seinem kräftigen Oberkörper.
Ein klapperdürrer Mann mit einem länglichen amerikanisch-kaukasischen Hundegesicht kommt auf Pål zu. Auf dem kleinen Namensschild, das an der gestreiften Hemdbrust des Amerikaners befestigt ist, steht Dr. Tomasetti, University of Atlanta (eine übrigens nicht gerade angesehene Universität, de facto eine sogenannte non-accredited university) .
»Paul, how nice to see you ! Das war doch in Detroit, nicht wahr?«, fragt ihn Tomasetti.
»Nein, es war in Island«, sagt Pål.
»Ah, ja«, sagt der Amerikaner. » Wonderful country ,« Danach erzählt er Pål, dass es heiß sei, was Pål auch so sieht, und dass Amsterdam eine schöne Stadt sei, was Pål nicht bestreitet, dann fragt der Amerikaner nach Miss Cleve, einer talented – and beautiful – young woman working at the University of Oslo . Pål muss bedauern, er hat noch nie von ihr gehört. In Wirklichkeit redet der Amerikaner von Nanna Klev, und wenn Pål das gewusst und zugleich begriffen hätte, welche Bedeutung sie in seinem Leben haben wird, hätte er es überaus interessant gefunden, was Tomasetti jetzt erzählt, aber so steht Pål einfach nur still da und hört Tomasettis Ausführungen über diese Miss Cleve geistesabwesend zu, die so schön sei und die auf keinen Geringeren als Jack Mills einen tiefen Eindruck gemacht habe.
» And the dark lady da hinten«, sagt Tomasetti und zeigt auf Rinkel, »der hat die Aufmerksamkeit, die Miss Cleve zuteilwurde, ganz offensichtlich missfallen.«
»Ach«, sagt Pål, er hat eigentlich gar nicht zugehört, schaut aber dennoch zu Rinkel.
Dann plappert Tomasetti über seinen Vortrag, den er am Nachmittag halten soll. Påls Blick klebt jetzt an Mills und seinem Hofstaat, ihm ist das, was Dr. Tomasetti sagt, vollkommen gleichgültig. Es ist heiß, Pål unterdrückt ein Gähnen. Mills legt in diesem Moment sozusagen väterlich spottend die Hand in Lone Husgaard-Jensens Nacken. Pål sieht sich wieder Tomasettis Hemd an. Es sieht ziemlich teuer aus, ist aber viel zu gestreift, fast wie ein Schlafanzug. Lone lächelt Mills an, dasselbe tun Rinkel und die beiden anderen Frauen. Pål ist plötzlich überzeugt davon, dass Jack Mills die Nacht nicht allein verbringen wird, egal, welchen Schlafanzug er trägt.
In jüngeren Jahren, gleich nach dem Ereignis, glaubte Pål einige Monate lang, dass seine Haut Farbe und Muster ihrer Umgebung annehmen könnte. Darauf folgten einige Jahre, in denen Pål wusste, dass es nicht so war, in denen er sich aber von dem Gefühl, dass es so sei, nicht befreien konnte. Aber dieses Gefühl hatte sich auf Situationen beschränkt, in denen er unsicher und verlegen gewesen war. Jetzt stellt sich dieses Gefühl nur ungeheuer selten ein, fast nie. Zuletzt hatte er auf dem Flug nach Graz etwas Vergleichbares erlebt. Und er begreift noch immer nicht, wodurch das damals hervorgerufen wurde. Es muss der Kontrast zwischen der verheißungsvollen Stimmung im Flughafenzug – freundlich, fast intim – und der Kühle gewesen sein, die sie ihm im Flugzeug entgegenbrachte. Aber das hat ihn doch unmöglich dermaßen umwerfen können? Nein, er begreift es nicht. Rinkel hat etwas Unberechenbares, etwas Raubtierhaftes, etwas Lauerndes. Jetzt legt sie Mills besitzergreifend eine Hand auf den Arm und lacht ihr glasklares Lachen. Der Amerikaner mit dem Schäferhundgesicht redet weiter. Pål nickt, hat aber keine Ahnung, worum es gerade geht.
Ich habe an Hyperkonvergenz gelitten, denkt Pål. Das ist kein neuer Gedanke, keine neue Diagnose, aber er denkt gern daran, und als er vor einigen Jahren Woody Allens Film Zelig gesehen hat, begriff er, dass er nicht der Einzige war. Er betrachtet seinen Zustand mit Humor, während er sich der Sache gleichzeitig auch analytisch nähert, und er seziert jede Spur von Chamäleontendenzen mit dem Enthusiasmus und der Gründlichkeit des professionellen Forschers. Er lächelt vor sich hin, bei dem Gedanken, dass er vor nicht allzu langer Zeit das Gefühl hatte, mit einem beigen Flugzeugsitz zu verschwimmen.
Die Fähigkeit, mit Farbe und Struktur der Umgebung zu verschwimmen, ist im Tierreich nicht sonderlich verbreitet, das tun im Grunde nur die Angehörigen der Spezies Chamaeleontidae. Als Homo sapiens war Pål in diesem Punkt etwas Besonderes. Es ist indessen absolut normal, sich unter anderem von der Sprechweise der Gesprächspartner beeinflussen zu lassen, das ist eine Tatsache, mit der jeder Linguist vertraut ist. Aber in der Zeit unmittelbar nach dem Ereignishat Pål sich in stärkerem Maß als üblich beeinflussen lassen, und das noch dazu wider Willen. Er hat Mimik und Körpersprache und auch Tonfall, Stimmstärke, Sprechtempo und Akzent seines Gegenübers nachgeahmt. Doch da alle ihre eigene Sprechweise für völlig natürlich halten, haben die meisten Påls Neigung nicht einmal bemerkt.
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