»Hans Holstein säuft wie ein Loch«, sagt ein anderer.
»Echt?«, fragt ein naiver Morphologe.
»Ja. Auch während der Arbeitszeit. Will noch jemand Wein?«
»Ja, bitte.«
»Ein bisschen noch, danke.«
»Bei Edith Rinkel läuft es mir eiskalt den Rücken runter«, sagt jemand von der Phonologie.
»Sie ist unglaublich tüchtig«, sagt Gunnar Vik. Er hat den Mund voller Pizza, aber trotzdem ist es nicht schwer zu hören, was er sagt, und vor allem ist es leicht zu sehen , was er meint. Sein Gesicht sieht aus wie ein Protesttransparent.
»Gunnar! Du bist viel zu gut für diese Welt. Hast du denn noch nie ihre Augen gesehen? Die sind doch total unheimlich!«
»Jetzt macht der armen Nanna doch keine Angst«, sagt Gunnar.
»Ich kenne Edith Rinkel doch schon«, sagt Nanna. »Wir waren an derselben Universität in den USA. Anfang des Jahres.«
»Aha, und wie findest du sie?«
»Sie ist …« Nanna zögert. »Edith verfügt nicht gerade … über ein besonders gewinnendes Wesen.«
»Nein, das kann man wirklich nicht behaupten. Gibt es kein Stück mehr mit Schinken?«
»Ich habe gestern übrigens mit Linn B. gesprochen«, sagt eine leise zu ihrer Nachbarin. Sie sitzen so dicht nebeneinander und reden so leise, dass es deutlich ist, dass sie Freundinnen sind.
»Wie geht’s der denn so? Hat sie einen Job gefunden?«
»Na ja, sie hat doch diese Vertretung an der Schule, aber … du weißt …«
Die erste Frau lässt ihre Finger durch die Luft wandern. Die andere senkt verständnisvoll den Kopf.
»Ihr redet doch nicht etwa über Linn Bylund?«, fragt Nanna vorsichtig.
Die beiden Freundinnen nicken. »Doch. Kennst du sie?«, fragt die eine.
»Ja«, sagt Nanna. »Wir haben an der NTNU zusammen Deutsch belegt.«
»Ach was«, sagt die andere.
»Die hätte eigentlich hier bei uns arbeiten sollen«, sagt die Erste.
»Ach ja?«, fragt Nanna. »Ja, das wäre doch nett gewesen. Aber warum tut sie das nicht?«
»Weißt du, wer Pål Bentzen ist?«
»Nein«, sagt Nanna.
»Na ja, der hat eine Forschungsprofessur an der Abteilung für Zukünftige Morphologie. Er hat ganz einfach den Job, den eigentlich Linn hätte haben sollen.«
»Sie stand als Nummer eins auf der Liste, und Pål war Nummer zwei. Niemand weiß, was passiert ist, aber irgendwie ist es Paulsen gelungen, die Reihenfolge umzudrehen und Pål den Job zuzuschanzen.«
»Ist er denn nicht … fähig?«
»Doch, fähig und …«, sie senkt die Stimme, lässt sie übertrieben geheimnisvoll klingen, »… gut aussehend. Verdammt gut aussehend sogar!«
»Das stimmt schon«, sagt ihre Freundin, die Påls Charme offenbar nicht ganz so erlegen ist. »Aber er hat an unserem Institut streng genommen überhaupt nichts zu suchen. Er denkt doch nur an Sprachgeschichte. Was sollen wir denn mit Vergangenheitsforschern an einem Zukunftsinstitut?«
»Pål ist ein verdammt sympathischer Typ«, sagt Gunnar, der diesen Teil des Wortwechsels gehört hat. »Ich will mich nicht dazu äußern, ob er gut aussieht oder nicht, aber er kann sehr viel. Auch als Zukunftsforscher. Er ist inzwischen zu einem unserer besten Futlings geworden.«
»Trotzdem. Er ist am Institut umstritten«, beharrt die skeptischere der beiden Freundinnen.
»Ja, ja, das mag wohl so sein«, gibt Gunnar zu, der gern mit aller Welt in Harmonie leben möchte.
»Edith Rinkel ist jedenfalls schrecklich«, sagt die andere Freundin.
»Sie ist ungewöhnlich tüchtig«, wiederholt Gunnar.
»Gunnar, du bist einfach zu langweilig! Die Kellner scheinen uns alle nicht zu sehen, bestell du bitte noch eine Runde Pizza!«
»Na gut«, sagt Gunnar bereitwillig. »Was wollt ihr?«
»Noch eine mit Schinken und Champignons.«
»Und eine mit Krabben und Ananas!«
»Igitt!«
»Alles klar, schon unterwegs. Eine mit Schinken und eine mit Krabben.«
»Und bring ein Bier mit!«
»Pål Bentzen hat seinen Job nicht verdient! Den hätte Linn kriegen müssen«, murmelt die eine Freundin.
»Für mich auch noch einen Halben.«
»Und noch eine Flasche Wein. Roten.«
»Eine mit Schinken und eine mit Krabben, zwei Halbe und eine Flasche Rotwein«, fasst Gunnar zusammen, ruhig, diplomatisch und unangreifbar, dreht sich um und geht zum Tresen.
»Aber echt, Leute, Edith Rinkel ist scheußlich. Wisst ihr, was sie einmal mit mir gemacht hat?«, fragt eine Dialektdesignerin. Sofort beugen sich alle vor und richten die Ohren wie Trichter auf sie.
»Ich hatte gerade Examen gemacht, unmittelbar, nachdem Futling eingerichtet worden war«, beginnt die Dialektforscherin. »Ja, Edith Rinkel war für kurze Zeit stellvertretende Geschäftsführerin«, fügt sie für Nanna erklärend hinzu.
»Ja?«, fragt eine andere, atemlos, hungrig nach einer neuen Skandalgeschichte über Rinkel. »Ja und? Was ist passiert?«
»Ich wollte ein Reisestipendium beantragen, um auf den Kapverdischen Inseln Feldforschung zu betreiben, und darüber hatte ich mit Rinkel gesprochen. Aber sie war, um es vorsichtig auszudrücken, meinem Projekt gegenüber skeptisch eingestellt. Und wisst ihr was? Im darauffolgenden Frühling stellte der Forschungsrat dann doch tatsächlich Mittel für das Studium von Kreolsprachen bereit!«
»Ja?«
»Aber das habe ich erst nach Ende der Bewerbungsfrist entdeckt. Aber sie, als stellvertretende Geschäftsführerin, muss es gewusst haben. Und eine Woche nach Ende der Bewerbungsfrist hat sie es mir dann erzählt. Zuckersüß war sie: ›Ich habe das erst jetzt gesehen. Tut mir leid.‹«
»Was für eine Gemeinheit. Aber kann es nicht doch ein Missverständnis gewesen sein?«, fragt Nanna.
»Edith Rinkel passieren keine Missverständnisse. Abgesehen von den Dingen, die sie missverstehen will.«
»Als ich Examen machen wollte«, sagt eine andere, »war Edith Rinkel verantwortlich für die Publikationsfeiern am Institut für Klassische und Alte Sprachen. Da haben sie doch immer gefeiert, wenn jemand aus dem Haus etwas veröffentlicht hatte. Und Edith Rinkel arrangierte dann einen Kaffeeklatsch für die Leute, die sie leiden mochte, und ignorierte die anderen.«
»Wirklich?«
»Ja, total. Sie hat einige einfach unsichtbar werden lassen. Das ist eine effektive Herrschertechnik. Sie hat sie schlichtweg ignoriert.«
»Sie setzt immer ihre eigenen Artikel auf die Literaturlisten der Studierenden«, sagt der Morphologe, der auch gern seinen Teil beitragen möchte.
»Das war so ungefähr das Allererste, was Pål Bentzen am Institut gemacht hat, als er anfing. Er hat seine eigenen Artikel auf die Literaturlisten gesetzt.«
»Das tun doch alle«, sagt Gunnar Vik gelassen, er ist wieder zurück, nachdem er die Alkohol- und Pizzabestellung weitergeleitet hat.
Erst als von den beiden neuen Pizzen auch nur noch ein paar Krusten übrig sind, wird an diesem Tisch nicht mehr über die Kollegen hergezogen. Wenn Nanna Klev überrascht ist über Reichweite, Tiefe und Intensität des Klatsches, dann lässt sie sich das jedenfalls nicht anmerken. Die meisten würden Nanna Klev als liebenswürdigen Menschen beschreiben. Wir wollen jedoch nicht verhehlen, dass Nanna Klev sich von Klatsch leicht fesseln lässt. In dieser Hinsicht hat sie wohl große Ähnlichkeit mit den meisten von uns. Aber sie scheint sich für diesen Charakterzug zu schämen. Trotzdem lässt sie sich von der Stimmung einnehmen und lauscht voller Gier. Sie rührt die Pizza kaum an. Sie sitzt mit leuchtenden Augen am Kneipentisch und lauscht, offenbar geschockt, aber dennoch absolut hingerissen.
Die Humanistische Fakultät besteht aus einem Dutzend Institute, und nicht in allen herrscht die gleiche Atmosphäre. In einigen bilden die Angestellten eine große, glückliche Familie, in anderen beobachten kleine Cliquen einander hasserfüllt und misstrauisch, in einer dritten walten Gleichgültigkeit und Sehnsucht nach etwas anderem, das weit abseits vom Campus liegt. Oft, überraschend oft, kann ein einzelner Mensch alles verändern. Denn eine Einzelperson kann die Kraft haben, die Stimmung eines ganzen Instituts zu prägen. Durch ihre bloße Anwesenheit verwandelt diese Person – ohne das notwendigerweise selbst zu wissen – das Institut zu einem von Großzügigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Zusammenarbeit geprägten Ort oder zu einem Ort der humorlosen Konkurrenz und der Ausgrenzung.
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