»Danke. Sag mal, läuft da was zwischen dir und Edith Rinkel?«
»Nein, absolut nicht«, antwortet Pål, überrascht über die weibliche Fähigkeit, Dinge zu bemerken.
»Sieh dich vor. Sie hat Augen wie ein Grönlandhund. Unzuverlässig und falsch.«
»Ich habe doch gesagt, es läuft nichts.«
»Das habe ich gehört. Und du hast mich gehört. Nimm dich in Acht vor dieser Frau!« In diesem Moment sehen sie, dass die Computerlinguistin Paulsen seine Jacke mehr oder weniger zurückwirft, er fängt sie auf und steht einige Sekunden mit der Jacke in der Hand und dämlichem Gesichtsausdruck da. »Ups«, sagt Lone, »was hat dein Institutschef denn jetzt angestellt?« Paulsen verschwindet abrupt in einer der Gassen des Rosse Buurt. (Kein Linguist mit Selbstachtung würde auch nur im Traum Red-Light-District sagen. Wenn man sich schon die Damen ansehen, wenn man den Gelüsten des Unterleibs nachgeben will, dann sollte man das doch – soweit das möglich ist – in der Originalsprache tun.) Die anderen gehen weiter in Richtung Hotel. Pål hält Lone und Rinkel die Tür auf. Staffan muss eine sehr frühe Maschine erreichen, er bittet um Entschuldigung und verabschiedet sich, äußerst höflich und anständig, wie Schweden das eben so machen.
Rinkel und Pål sehen einander an. »Gute Nacht«, sagt Lone. Sie will ebenfalls schlafen gehen. Sofort. Auf der Stelle. Sie verschwindet im Fahrstuhl. Rinkel und Pål bleiben stehen.
»War sie sauer oder so was?«, fragt Rinkel.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortet Pål.
»Sie ist reizend«, sagt Rinkel. »Eine nordische Schönheit. Wirklich hübsch.«
»Sollen wir …«, sagt Pål und nickt vage in die Richtung, in der sich seiner Meinung nach die Hotelbar befindet. Rinkel schüttelt den Kopf.
»Komm«, sagt sie und geht zum Fahrstuhl. In der Fahrstuhlkabine ist es furchtbar eng und heiß. Rinkel steht vor Pål, er schaut über ihren Kopf und in den Spiegel an der einen Querwand. Er atmet ihren Duft ein, den ihres Parfüms, den ihres Körpers. Wir passen gut zueinander, kann er noch denken, ehe der Fahrstuhl anhält und die Tür aufgeht. Rinkel verlässt den Fahrstuhl, Pål folgt ihr, obwohl sein Zimmer zwei Stockwerke höher liegt, sieht die dünnen Träger über ihren Schultern an, die dunklen Haare, den runden Hintern.
»Hier wohne ich«, sagt Rinkel und bleibt vor einer Tür stehen. Dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn auf den Mund. Es ist ein feuchter, begieriger Kuss. Ein unzweideutiger Kuss. Ein lüsterner Kuss. Ein so intensiver Kuss, dass er nicht als freundschaftlicher Kuss missverstanden werden kann. Und er missversteht ihn auch nicht, sein Unterleib ist in verblüffend kurzer Zeit bereit, und er legt ihr seine Arme um den Körper.
»Gute Nacht«, sagt sie keusch, windet sich aus Påls Umarmung, dreht sich um, steckt ihre Schlüsselkarte ins Schloss und verschwindet in ihrem Zimmer. Er bleibt stehen und starrt die geschlossene Tür an.
Als Pål später in seinem eigenen Hotelzimmer im Bett liegt, ist er sich nicht mehr sicher, ob Rinkel ihn tatsächlich geküsst hat oder nicht. Hat sie ihn geküsst? Vielleicht hat er sich das nur so oft vorgestellt, dass sich Synapsen zwischen seinen Gehirnzellen gebildet haben, zwischen der Zelle mit der Aufschrift »Kuss« und der Zelle mit der Aufschrift »Rinkel«. Hatte er sie damals auf dem Weg nach Graz vollgekleckert? Wieder spürt er die vertraute Angst und das Bedürfnis zu verschwinden, will mit seiner Umgebung verschmelzen. Er hebt die Decke und mustert forschend seinen Körper. Seine Haut sieht so weiß aus wie die Bettwäsche. Schnell lässt er die Decke wieder sinken und schließt die Augen, er hat sich die Sache anders überlegt: Er will doch nicht wissen, ob seine Haut Farbe und Damastprägung der Bettwäsche angenommen hat oder ob ihm einfach nur das Licht einen Streich spielt.
So bleibt er lange liegen, in einem seltsamen Zustand aus Demütigung und Erregung. Dann wirft er energisch die Decke zur Seite, zieht sich an und geht hinaus auf den Hotelkorridor. Er läuft durch den mit Teppich ausgelegten Gang, weiter zum Fahrstuhl, und weniger als fünf Minuten später liegt er in einem Doppelbett in einem anderen Hotelzimmer, und eine Frau schlingt ihre Arme um seinen nackten Leib. Und diesmal ist es keine Einbildung.
Sie hat auf sein Klopfen hin sofort aufgemacht. Sie steht in einem dünnen Seidennachthemd in der Türöffnung. Sie sagen beide nichts. Er geht einfach hinein, zieht die Tür hinter sich zu, greift nach ihr. Sie ist willig, er ist fast brutal. Er fährt mit seinen Fingern durch ihre Haare, zieht ihren Kopf nach hinten, dann zwingt er ihren Körper aufs Bett. Er reißt das Nachthemd hoch, sodass sie bis zur Taille nackt ist, er spreizt ihre Beine, hält die zuckenden Oberschenkel fest und bewundert sie: Sie glänzt und duftet wie der mildeste, köstlichste Räucherlachs. Und er küsst sie dort, hart, noch immer mit einer Hand auf jedem Oberschenkel.
Dann ziehen sie einander vollständig aus, ruhiger. Lone hat sich im Bett aufgesetzt. Sie ist kurzatmig und sehr, sehr schön mit den langen blonden Haaren, die ihr ins Gesicht fallen. »Komm jetzt, Pål«, sagt sie und lässt sich zurücksinken.
Aber jetzt lässt Pål sich Zeit. Er kniet am Fußende des Bettes und sieht sie an. Sie ist braun gebrannt, mit weißen Feldern, hinterlassen von einem winzigen Bikini. Er entdeckt plötzlich, dass die Zehennägel an ihren sehr gepflegten Füßen grün lackiert sind, und er beißt sie hingerissen in die Zehen, ehe er ihre spitzen kleinen Brüste leckt. Die haben die gleiche Form und Größe wie diese Tetraeder, in denen man früher Sahne kaufen konnte, und dann gleitet er in sie hinein. Oft sind die zwischenmenschlichen Verkehrsformen auf Sprachkongressen wunderbar unkompliziert.
Die Universität Oslo wurde am 2. September 1811 gegründet, damals hieß sie noch: Königliche Frederiks-Universität, und den Namen trug sie bis 1939. Påls Mutter wurde sieben Jahre später geboren, empfangen in den übermütigen Friedenstagen, geboren an einem kalten Februartag des Jahres 1946. Als Påls Mutter klein war, befand sich ein Acker an der Stelle, wo heute die roten Backsteingebäude der Humanistischen Fakultät und der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät aufragen. Einige dieser Gebäude, unter anderem die der Meteorologie, der Physik und das Studentenheim, waren damals schon errichtet, aber ansonsten gab es nur Wiesen und Felder, Getreide und Gras, friedlich grasende Kühe, die träge mit dem Schwanz die Fliegen verjagten.
Dann schossen die roten Backsteinblöcke aus dem Boden. Rasenflächen wurden angelegt und Bäume gepflanzt. Springbrunnen und Wege aus Pflastersteinen wurden angelegt. Die Studenten strömten in Scharen herbei. Während die Königliche Frederiks-Universität 1813 siebzehn Studenten aufwies, waren in Oslo um die Mitte der Fünfzigerjahre bereits 3000 immatrikuliert. Um die Jahrtausendwende gab es fast 40 000, folglich muss es 1970, in dem Jahr, als Påls Mutter im Schnee lag, mit um die Knöchel schlackernden Skihosen und einem bezaubernden Mann zwischen den Oberschenkeln, irgendetwas zwischen 30 000 und 40 000 Studenten gegeben haben. Egal, wie viele es waren, jene, die bald darauf Påls Mutter werden sollte, war eine von ihnen: stud. phil. Maren Bentzen, eine begabte, wenn auch nur mäßig fleißige Studentin der Anglistik.
Westlich der Universitätsgebäude, zwischen Vinderen und Vestgrensa, liegt der Forschungspark. Eine Senke in der Landschaft, ein bescheidenes Tal mit einer Mischung aus neuen und alten Gebäuden. Hier stehen unter anderem das Institut für Medien und Kommunikation und das Mittelalterzentrum, beide untergebracht in einem weißen modernen Gebäude mit Statuen vor dem Eingang und einer Art Scheunenbrücke aus Beton, die zum Haupteingang hochführt. Das Psychologische Institut ist in einem Gebäude im Bauhausstil untergebracht, das den Namen Harald-Schjelderups-Hus trägt. Früher war hier das Forschungsinstitut der Papierindustrie, und im Foyer können sich die Psychologen deshalb über ein riesiges Fresko von Jean Heiberg freuen, das den Weg vom Baum zum Papier zeigt, gemalt im soliden Sozialrealismus der Fünfzigerjahre, mit kräftigen Forstarbeitern, Flößern und Zellulosemaschinen.
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