Als er in die Hotellobby hinunterkommt, sind die anderen schon gegangen. Pål ist nicht übermäßig überrascht (er flucht in Gedanken, eher automatisch als aus ehrlicher Verärgerung: Verflixt!), er ist daran gewöhnt, fast immer zu spät zu kommen, und glücklicherweise steht der Name des Restaurants zusammen mit einer grob skizzierten Wegbeschreibung hinten auf der Eintrittskarte. Het Blaauwe Kopje heißt es, und es soll am Singel liegen. Er findet es ohne Probleme, nachdem er zwei kichernde Teenies gefragt hat, die übrigens erstaunlich gut Englisch sprechen. Er beeindruckt sie mit einigen Sätzen in akzentfreiem Niederländisch und erreicht dann das Restaurant, bis obenhin gefüllt mit guter Laune, Selbstsicherheit und Lebensfreude. Er zeigt seine Karte vor und wird in den Keller geführt.
Unten sind sechs lange Tische mit weißen Decken aufgestellt. An den Tischen stehen Bänke, und darauf sitzen mehr oder weniger festlich gekleidete Kongressteilnehmer. Er entdeckt Petra, die ihn ansieht, aber nichts sagt, er sieht Lone, die ruft, dass er sich neben sie setzen soll. Dann sieht er Rinkel. Sie kehrt ihm den Rücken zu und spricht mit einem dunkelhaarigen Mann in einem Leinenjackett. Pål gibt vor, Lone weder zu sehen noch zu hören, und tippt Rinkel leicht auf die Schulter. »Hier noch was frei?« – »Hallo«, sagt sie überrascht, »setz dich.« Er setzt sich, entdeckt Lone auf der anderen Seite des Tisches, zuckt bedauernd mit den Schultern und setzt eine Miene auf, die klarstellen soll, dass er natürlich lieber neben ihr sitzen würde als neben seiner Chefin.
Sie sitzen ohnehin schon dicht gedrängt, doch da kommt eine blonde Frau, die einige Plätze weiter auf der Bank sitzt, von der Toilette zurück. Pål erkennt in ihr eine der Damen aus Mills’ engster Bewunderinnenschar, und er nickt in Gedanken bestätigend, als er sie Englisch mit deutschem Akzent sprechen hört. Alle rücken noch näher zusammen. Rinkel rutscht dichter an Pål heran, und plötzlich spürt er ihren warmen Oberschenkel an seinem.
Er ist in einer Art skandinavischer Kolonie gelandet. Der dunkelhaarige Mann im Leinenblazer entpuppt sich als schwedischer Mediensprachforscher namens Staffan, und Pål und Rinkel direkt gegenüber sitzen Lone und die braunhaarige Computerlinguistin von der Handelshochschule, die Paulsen in ihre Mitte genommen haben.
Es wird eine Reistafel serviert. Eine Menge kleiner Schüsseln und Schalen steht auf der weißen Tischdecke verteilt, und die Gäste bedienen sich selbst. Nachdem sie die Getränkecoupons abgeliefert und den dafür erhaltenen Wein getrunken haben, bestellen sie mehr. Alle sind strahlender Laune. Der Kongress liegt hinter ihnen, ihre Vorträge sind gehalten. Am nächsten Tag wird es keine Sitzung geben, die meisten können ausschlafen, ehe sie per Flugzeug oder Zug in ihre Heimatländer zurückkehren. Zurück zu ihren Universitäten, ihren kleinen Büros, den Büchern, den Stapeln von Papieren, die sie lesen müssen, Vorlesungen, die sie halten müssen, den Studenten, die sie zu betreuen haben. Zurück zu Ehepartnern, Geliebten und Liebhabern, kleinen Kindern oder übellaunigen Teenagern, zurück zu Reihenhäusern und gepflegten Villen, oder zurück zu Einsamkeit und leeren Wohnungen. Aber jetzt sind sie hier. Und haben gut gewürztes Essen und immer neue Weinflaschen vor sich auf dem Tisch stehen.
»Skål, Lone«, sagt Pål in perfektem Dänisch, und er merkt, wie der Rausch in ihm aufsteigt, als ob in ihm die Flut käme und das Hochwasser Hemmungen und Bedenken fortspülte.
»Skål, Pål«, sagt Lone.
Sie sprechen über die Vorträge, die sie gehört haben. Sie sprechen über Mills. Pål beobachtet Rinkel sehr genau, kann aber nicht behaupten, dass sie auf seinen Namen stark reagiert, vielleicht hat sie aber zu diesem Thema auch nichts zu sagen. Sie spricht mit Staffan, dem schwedischen Mediensprachforscher, der zu ihrer Linken sitzt. Dann fängt Lone an, laut aus einer Speisekarte vorzulesen, die sie gefunden hat, und alle helfen mit ihren Niederländischkenntnissen aus.
» Kip «, sagt Staffan. »Das ist alles, was ich weiß. Das bedeutet kyckling .«
»Was bedeutet das? Was sagst du da?«, fragen die Däninnen auf Dänisch.
» Kyckling. Kylling bei euch, Hähnchen«, sagt der Mediensprachforscher Staffan.
»Ach so«, nicken die Däninnen.
Sie sprechen über die große Untersuchung über internordisches Sprachverständnis, dass es damit bergab geht, dass die Elterngeneration einander viel besser verstehen konnte als heute die jungen Leute. »In der nächsten Generation werden wir vermutlich Englisch miteinander sprechen, wir Nordländer. Cheers «, sagt der Schwede. Sie sprechen über das Wort rijsttafel . Wenn man Linguist ist, gute Laune hat, sich in gemischter Gesellschaft befindet und dem anderen Geschlecht imponieren möchte, kann man unendlich viel über die beiden Wörter »Reis« und »Tafel« sagen. Wortwechsel und etymologische Betrachtungen von unterschiedlicher Qualität hüpfen wie Pingpongbälle über den Tisch. »Tafel«. Wie das englische table , wie italienisch tavola . »Auf Norwegisch sagt man ›die Tafel aufheben‹«, sagt Pål. Dann sagt Paulsen, er kenne vier indonesische Wörter für »Reis«.
»Wow, leg los«, bittet Lone.
»Ja«, sagt Paulsen. »Also, folgendermaßen: padi bedeutet Reis, der auf dem Feld steht. Gabah bedeutet geernteter, aber nicht gedroschener Reis. Und dann gibt es noch … ja, beras , der ist gedroschen.«
»Das waren drei«, sagt Lone und zählt mit den Fingern.
»Ich kann mich gerade gar nicht …«, sagt Paulsen und macht ein unglückliches Gesicht.
»Gekochter, zum Essen bereiter Reis heißt nasi «, sagt Rinkel und beugt sich zu Pål hinüber. »Dieses Buch habe ich nämlich auch gelesen. Es steht auf der Literaturliste zum Einführungskurs«, flüstert sie, belustigt, aber nicht boshaft.
»Ah, nasi wie in nasi goreng «, ruft Lone. »Das ist doch ein Gericht, ein Gericht zum Essen, das steht auf der Speisekarte!«
»Aha«, sagt Paulsen.
»Das bedeutet gebratener Reis«, sagt Rinkel.
»Vier Wörter für Reis, aber in den skandinavischen Sprachen gibt es nur eins«, sagt Staffan.
»Lexikalisiert, ja«, sagt Paulsen und versucht, seine Ehre zu retten.
»Denkt an die Eskimos und ihre vielen Wörter für Schnee. Wie viele Wörter haben die Eskimos noch gleich für Schnee, was meist du?«
»Die Grönländer«, sagt Lone. »Die heißen heute Grönländer. Oder Inuit.«
»Bestimmt mehrere Hundert«, antwortet die Computerlinguistin. »Und wie viele gibt es in Wirklichkeit?«
»Sind das nicht fünf oder so?«, fragt Lone.
»Zwölf unterschiedliche Wortstämme, wenn wir Pullums hervorragender Untersuchung glauben wollen«, sagt Rinkel.
»Richtig, Rinkel«, sagt Pål. Er ist betrunken, er spürt, wie ihr Oberschenkel gegen seinen drückt. Er drückt zurück, und ihr Oberschenkel bleibt dort, verheißungsvoll und warm.
Sie gehen zusammen zurück zum Hotel, alle Skandinavier. Sie gehen langsam an den Grachten entlang. Die Luft ist jetzt kühler. Rinkel geht ein wenig vor den anderen her, direkt hinter ihr trottet Staffan. Dahinter folgen Paulsen und die Computerlinguistin. Paulsen hat der Computerlinguistin seine Jacke um die Schultern gelegt. Ganz zum Schluss kommen Lone und Pål. Lone fröstelt.
»Es ist kühl«, sagt sie.
»Hmm«, brummt Pål.
»Hör mal, Pål. Das hier war ein indirekter Sprechakt, konntest du das nicht hören? Die illokutionäre Kraft ist doch eigentlich ziemlich klar und deutlich, oder? Oder muss ich hier einen Vortrag über Searle halten? Ich friere!«
»Verzeihung, Lone. Hier!«
Pål zieht sein Jackett aus und legt es ihr um die Schultern.
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