Nach ungefähr drei Minuten dämmert es Pål, dass er diesen Vortrag schon einmal gehört hat, auf einem Kongress in Österreich, in einem kleinen Ort in der Nähe von Graz, vor einem halben Jahr.
Auf dem großen Morphologiekongress in der Nähe von Graz wurde die Universität Oslo von Professorin Edith Rinkel, von Professor Fred Paulsen, vom Akademischen Rat Hans Holstein und von Pål vertreten. Sie verließen Norwegen an einem Wintertag voller Schneematsch. Es sollte das erste Mal sein, dass Pål mit Edith Rinkel mehr als nur oberflächlich ins Gespräch kam, mit einer Frau also, die in Påls Geschichte eine entscheidende Rolle spielt. Edith Rinkel ist Påls unmittelbare Vorgesetzte, sie leitet die Abteilung für Zukünftige Morphologie am Institut für Futuristische Linguistik. Sie ist eine gut aussehende Frau, und ihr Aussehen braucht trotz ihres Alters keinerlei Vergleiche zu scheuen.
In einigen Monaten wird sie Fünfzig, Pål ist also fast siebzehn Jahre jünger. Für ihn ist sie eine außergewöhnlich attraktive Frau. Edith Rinkel ist übrigens die Frau, an die fast alle Philologen an der Universität Oslo denken, während sie sich selbst befriedigen. Sie ist hochgewachsen und hält sich sehr gerade, sie hat dunkle Haare. Sie ist gut gebaut und gut proportioniert. Sie ist nicht schlank, legt man das heutige Weiblichkeitsideal zugrunde, ist sie sogar ziemlich übergewichtig. Ja, kräftig ist ein Wort, das leicht über die Lippen kommt, wenn Edith Rinkel beschrieben werden soll. Kräftig ist ein Euphemismus, der oft zur Beschreibung von fetten Frauen benutzt wird, aber Rinkel ist kräftig im ursprünglichen Sinne dieses Wortes: Sie ist kraftvoll. Dass sie ein schillerndes Talent hat, bezweifelt niemand. Der Korridorklatsch über sie dreht sich auch nie um ihre intellektuellen Fähigkeiten, sondern um andere Dinge. Rinkel ist nicht besonders beliebt. Sie wird von einigen bewundert, von vielen begehrt und von den meisten gefürchtet.
Zur Zeit des Morphologiekongresses im Januar in Graz hatte Pål gerade seine Stelle angetreten und nahm zum ersten Mal als Angehöriger des Instituts für Futling an einem Kongress teil. Edith Rinkel war er bisher beim Einstellungsgespräch und dann am Tag darauf bei der Arbeit begegnet, später hatte er sie einige Male in der Mensa gesehen. Pål hatte sich jedoch dabei ertappt, dass er ziemlich viel an sie dachte, wenn er in seinem neuen Büro am Computer saß und aus dem Fenster in Richtung Gaustad starrte, oder auch zu Hause in dem grünen Haus im Niels-Henrik-Abels-Vei. Er dachte an sie, wenn er auf dem Sofa saß und fernsah oder Wein trank oder mit Siri sprach. Er dachte an sie, wenn er im Bett lag oder unter der Dusche stand. Er dachte an Rinkel immer als Rinkel, nie als Edith. Das fand er ein wenig komisch, zugleich gefiel ihm das Pikante an der Tatsache, dass er die Frau, die er in Gedanken derzeit am häufigsten auszog, nur beim Nachnamen nannte.
Er dachte immer häufiger an sie. Er dachte an sie an einem Abend, als Siri bei ihm übernachtete. Siri hatte sich soeben zum Schlafen umgedreht und vor Wohlbehagen und Schläfrigkeit geseufzt. Pål mochte die Geräusche, die befriedigte Frauen ausstoßen – auch wenn er zu diesem Zeitpunkt dieser besagten Frau schon überdrüssig war –, und er liebte den Geruch frischer Leidenschaft.
Innen am linken Oberschenkel, ganz oben an der Leiste, hat Pål eine Narbe, eine Narbe, die im Laufe der Jahre blauweiß geworden ist, blauweiß wie Magermilch. Die Narbe ist länger als eine Zigarettenpackung und breiter als eine Frauenhand – jedenfalls breiter als die Hände der Frauen, die bisher ihre Hand auf die Narbe gelegt haben. Sie legen die Hand in einer tröstenden Neugier darauf, während sie bohren und fragen: »Was ist passiert? Hat es wehgetan? Musste das im Krankenhaus genäht werden?« Einige fragen direkt, ohne Umschweife, andere zaghaft, wiederum andere nur mit Blicken. (»Das ist wie ein Persönlichkeitstest«, sagt Pål zu seinem besten Freund Morten. »Bisher hat keine nicht gefragt, und ich bilde mir ein, dass ich durch die Art, in der sie fragen, etwas über ihre Persönlichkeit lerne«, fügt er hinzu.)
Keine bekommt eine Antwort, und an dieser Stelle pflegt Pål die Frau behutsam in die Arme zu nehmen und sie umzudrehen, sodass sie unten liegt. Und bald vergisst sie ihre Neugier. (»Was machst du, wenn eine mal nicht fragt?«, erkundigt sich Morten. »Die heirate ich sofort«, antwortet Pål. »Trottel«, sagt Morten.)
Er schnupperte wie ein Hund die Schlafzimmerluft, lauschte Siris ruhigem Atem und legte eine Hand auf die Narbe, spürte, dass die Haut dort dünner und viel glatter war. Er hatte sich Rinkels Hand auf der Narbe vorgestellt. Vielleicht würde ihre Hand die Narbe sogar vollkommen bedecken? Rinkels Hand oben auf seinem Oberschenkel, sie streicht ihm über die Narbe, gleitet über den Hüftkamm und wieder zurück, nähert sich seinem Penis, ehe sie plötzlich die Haut des Oberschenkels packt und so fest zukneift, dass es wehtut.
Am Tag nach diesen eher frustrierenden und wenig hilfreichen Phantasien, die immer wieder hochgekommen waren, bis er endlich hatte einschlafen können, hatte Pål Rinkel in der Mensa gesehen, aber sie hatte ihn nicht gegrüßt, sein Lächeln nicht erwidert. Seit er seinen Posten angetreten hatte, hatte er sie nur sehr selten gesehen, später erfuhr er, dass sie sich in diesem Semester viel in Chicago als Gastdozentin aufhielt.
Rinkel hatte zwar am ersten Tag angeklopft, um ihn willkommen zu heißen, aber es war schwer gewesen, in ihrer Stimme besonders große Herzlichkeit oder in den schönen Augen irgendeine Spur von Wärme zu entdecken. Später hatte sie ihn nicht mehr gegrüßt. Er war ihr eines Tages, als sie mit der Rolltreppe nach oben fuhr, entgegengekommen, aber sie hatte nur einen Punkt direkt über seinem Kopf angestarrt.
Pål wusste sehr wohl, dass Rinkel die große Morphologiekonferenz besuchen wollte. Und als sie einander zufällig im Osloer Hauptbahnhof über den Weg liefen, am Fahrkartenschalter, wo sie sich beide Fahrkarten für den Flughafenzug kauften, hatte Pål sich gefreut, oder sagen wir eher, er trat die Reise erwartungsvoll an. Aber zeitgleich mit der Spannung und der Freude war etwas von der alten Schüchternheit in ihm aufgestiegen. Pål und Rinkel gingen teils nebeneinander und teils weit entfernt voneinander auf den Bahnsteig zu. Rinkel stieg als Erste in den Zug, Pål betrachtete ihr Hinterteil, als sie vor ihm durch den Mittelgang schritt, ehe sie auf dem Fensterplatz eines freien Doppelsitzes Platz nahm. Sich nicht zu ihr zu setzen, wäre eine überaus demonstrative Handlung gewesen, deshalb glitt Pål auf den Sitz daneben.
Da sitzen sie dann eine Weile, ohne etwas zu sagen. Rinkel setzt sich auf dem Sitz zurecht, und plötzlich nimmt er ihr Parfüm wahr, süßlich und ein wenig zu schwer. Es erinnert ihn an vergorene Äpfel. Eigenartig, aber gut. Rinkels Oberschenkel, in taubengrauen, ziemlich eng sitzenden Hosen, liegen parallel zu Påls, ihr Oberschenkel ist nur wenige Millimeter von seinem entfernt. Der Zug setzt sich in Bewegung. Pål schluckt und holt tief Luft, um etwas zu sagen, egal was. Rinkel sieht ihn an, und zum ersten Mal fallen Pål ihre Augen auf. Sie sind blau, auffällig hell, wie die Augen eines Raubtiers.
»In den letzten Tagen war das Wetter ja ganz schön mild«, sagt Pål im Konversationsstil. Rinkel sieht ihn unverwandt an. Die Mitte der Iris, um die Pupillen, die in diesem Moment ziemlich klein sind, umgibt ein schmaler braungelber Rand. Dann wendet sie sich von ihm ab und schaut aus dem Fenster. Auch Pål schaut aus dem Fenster. Verflixt! Sie befinden sich in Groruddalen, aber sie fahren durch einen Tunnel, und das Tunnelinnere zu kommentieren ist nicht gerade interessant. Ohne irgendeine Vorwarnung wendet Rinkel ihren Kopf vom Fenster weg, schaut Pål mit ihren seltsam leuchtenden Augen an und stellt ihm eine Frage, eine fachliche Frage. Sie stellt diese Frage auf eine Weise, bei der Pål sich vorkommt wie ein unterlegener, schweißgebadeter Kandidat bei einem mündlichen Examen. Rinkel besitzt ein kleines Repertoire an sorgfältig ausgewählten linguistischen Fragen, die sie stellt, um ihre Fachkollegen in Verlegenheit zu bringen. Nein, das ist Rinkel gegenüber nicht gerecht, sie stellt diese Fragen nicht, um ihre Fachkollegen in Verlegenheit zu bringen, aber da die wenigsten Antworten Rinkel zufriedenstellen, endet die Sache oft in Verlegenheit, was ihr ja an sich auch eine Form von Befriedigung verschaffen kann.
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