Mit dem nächsten Zettel war es genauso.
Warum hatte Hans Notizen gemacht, die nur er selber verstehen konnte, als ob es ganz undenkbar wäre, daß ihm ein Unglück zustoßen oder er an der Grippe erkranken könnte?
Der Kommissar, müde und genervt, blickte durch ihre halbgeöffnete Tür herein.
»Monika, kannst du mit der Pathologie im Västra Krankenhaus sprechen? Sie haben ein Problem mit einer Obduktion.«
Jobmäßig gesehen, wirkte alles verlockender als Hans Erikssons Fälle, und deshalb antwortete sie ruhig, er brauche die Pathologie nur durchzustellen. Der Kommissar hörte sie nicht, da er nicht auf ihre Antwort gewartet hatte, und das Telefon schellte fast augenblicklich. Es war der Professor der Pathologie, auch er müde und gereizt, weil er seine Geschichte nun schon mindestens fünf Personen erzählt hatte. Er fragte, ob er diesmal wohl bei der richtigen gelandet wäre. Monika antwortete, daß der Kommissar sie gebeten habe, den Anruf entgegenzunehmen, und da müsse sie doch die richtige sein. Sie hörte zu, stellte Fragen und machte Notizen. Als sie den Handlungsverlauf einigermaßen begriffen hatte, fühlte sie sich verwirrt und unsicher, und sie versprach, in einigen Minuten zurückzurufen und genauere Auskunft zu geben.
Sie ging in den Flur hinaus und suchte irgendwen, den sie fragen könnte. Die Botschaftsbande saß hinter ihrer Tür verschanzt, die nächstliegenden Zimmer waren so leer wie die Kaffeeküche. Sie blieb unschlüssig stehen, hörte dann aber jemanden die Abteilung betreten. Es war wieder der Kommissar, der sie blöde anglotzte, als er sie auf sich zukommen sah.
»Was ist los?«
»Ich habe eine Frage wegen dieses Anrufs vom Krankenhaus.« Die Körpersprache des Kommissars sagte deutlichst, daß er nichts anderes erwartet hatte, daß es aber wirklich das letzte war, wenn eine sogenannte Verstärkung nicht einmal ein schnödes Telefongespräch bewältigen konnte.
»Na und?«
»Sie haben während einer Obduktion gemerkt, daß etwas nicht stimmte, sie nehmen fast an, daß sich der Verstorbene unabsichtlich vergiftet hat, aber auch Mord oder Selbstmord lassen sich nicht ausschließen, wenn ich richtig verstanden habe.«
»Und warum solltest du das nicht richtig verstanden haben? Bist du in diesem Punkt unsicher?«
»Nein . . .«
»Dann sag so was nicht. Natürlich hast du richtig verstanden. Deshalb brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen. Und was hast du nun vor?«
»Eine Voruntersuchung in die Wege leiten, nehme ich an.«
»Nimmst du an? Du bist an die Kriminalpolizei ausgeliehen und nimmst an, daß du bei einem unklaren Todesfall eine Voruntersuchung einleiten mußt. Natürlich brauchen wir eine Voruntersuchung, und dabei mußt du auch herausfinden, warum zum Teufel sie die Leiche in der Pathologie obduziert haben, wenn sie nicht wußten, wie der Mann gestorben ist. Weißt du, was du sonst noch zu tun hast?«
»Nicht genau, aber ich werde wohl die kleinen Grauen anwenden müssen, wie Poirot immer sagt.«
»Was willst du anwenden?«
»Tut mir leid, ich wollte sagen, ich werde mein Bestes tun.«
»Das ist ja wohl klar. Find jetzt erst einmal heraus, was passiert ist, und schreib einen Bericht.«
Er kehrte ihr den Rücken und ging zum Botschaftszimmer. Er schien die ganze Situation als ein Unglück zu erleben, das ihn unverschuldet getroffen hatte. Außerdem schien er Fieber zu haben, seine Augen glänzten, und seine Wangen konnten doch normalerweise nicht so rot sein?
Monika ging in ihr Zimmer und rief Bo Ekdal zurück. Sie teilte ihm mit, sie werde so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen.
Monika ging durch die automatischen Schwingtüren, die jedes Jahr eine große Anzahl neuer Patienten ins Krankenhaus führten.
Es war schön, aus der kalten Berührung des Nebels in die Wärme zu treten. Monika holte tief Luft. Der Architekt des Krankenhauses hatte vielleicht eine Phase von Kontrasten durchlebt? Kaltes, verschlossenes und geheimnisvolles Äußeres, drinnen Wärme, ein halber Dschungel in Töpfen, eine Cafeteria, ein Kiosk und ein Blumenladen. Oder wollte jemand das abweisende Äußere durch um so mehr Wärme ausgleichen? Es konnte aber auch ein Bestandteil der Indoktrinierung sein – erst soll man erschrecken, den Mut angesichts des gewaltigen und unübersichtlichen Apparates verlieren, in den man sich hineinbegeben muß, krank und unterlegen, wie man ist. Dann tritt man ein und stößt auf Wärme, Licht, Bewegung, menschliche Aktivitäten in begreiflichem Maßstab, und man fühlt sich erleichtert, ein Teil des Mutes stellt sich wieder ein, man ist dem Krankenhaus dankbar und hat bereits vergessen, daß gerade das Krankenhaus einem den Mut genommen hatte.
Es wirkte fast ungehörig, nach der Pathologie zu fragen, eine taktlose Erinnerung daran, daß nicht alles aus kunstfertigen Blumengestecken für frisch operierte Verwandte bestand, die in vier Tagen nach Hause kommen würden; aber wenn die Frau am Informationsschalter nun verärgert war, so zeigte sie es nicht. Sie erteilte Monika eine so klare Auskunft, daß die sich nicht noch einmal zu erkundigen brauchte, bis sie vor einer Glastür mit der Aufschrift »Pathologisches Institut« stand.
Hinter dieser Tür erwartete sie ein schlaksiger junger Mann mit einer Brille, die teilweise von einem Schopf aus den glattesten Haaren verborgen wurde, die Monika je gesehen hatte. Der junge Mann erklärte, daß der Professor sich leider nicht wohl gefühlt habe und deshalb nach Hause gegangen sei, aber daß er selber mit allen nötigen Auskünften zur Verfügung stehe. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und hatte sekundenlang freie Sicht, dann fiel ihm der Schopf wieder über die Brille. Er lachte, als wolle er um Entschuldigung bitten.
»Ich heiße übrigens Bertram Schwieter und bin eigentlich ganz weit unten in der Hackordnung hier im Institut, aber ausgerechnet heute sind alle krank, bis auf einen, den sie letzte Woche eingestellt haben, und deshalb bin ich beauftragt worden, Ihnen so weit wie möglich zu helfen.«
Monika spielte mit dem Gedanken, ihm zu erzählen, daß ihre Situation ganz ähnlich war, fühlte sich aber nicht selbstsicher genug, um das zu wagen.
»Als allererstes möchte ich den Toten sehen.« Monika hoffte, kompetent zu wirken.
»Ist schon klar, er liegt im Obduktionssaal, wir haben nichts angefaßt, seit wir angerufen haben.«
Auf einem Obduktionstisch aus rostfreiem Stahl lag die Leiche eines kleinwüchsigen, dünnen Mannes in mittleren Jahren. Er lag mit einem schwachen Lächeln um die blassen Lippen auf dem Rücken, und deshalb sah sein Kopf aus, als wisse er nichts davon, daß seine Bauchhöhle geöffnet worden war und seine inneren Organe, sorgfältig auf Tabletts arrangiert, überall herumstanden. Monika sah sofort die Blutergüsse des Mannes und fragte Bertram, wie sie entstanden waren. Bertram wußte das nicht, sagte jedoch entschuldigend, daß der amerikanische Professor, der die Leiche obduziert hatte, zu dem Befund gekommen war, daß sie nicht durch eine Mißhandlung entstanden waren und daß sie für die Todesursache keine Rolle spielten.
»Was wissen wir über die Umstände des Todesfalles?« fragte Monika.
»Ich weiß auch nicht mehr, als in seinen Papieren steht. Offenbar hatte er mehrmals Magenblutungen, er wurde zuletzt vor zwei Wochen in der Chirurgie behandelt, dann wurde er in guter Verfassung entlassen, erschien gestern morgen aber in der psychiatrischen Ambulanz, und da fiel er im Wartezimmer um und war tot.«
»In der Psychiatrie? Was wollte er denn da?«
Bertram machte ein unglückliches Gesicht, als ob man ihm persönlich vorwerfen könnte, daß Gösta diesen ungewöhnlichen Weg in die Pathologie gewählt hatte.
»Das weiß ich nicht. Wir scheinen noch keine Papiere von dort zu haben, wir werden sie so schnell wie möglich besorgen, im Moment steht alles kopf; ich weiß wirklich nicht mehr.«
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