Er kehrte zurück in das Dunkel, an dem toten Kinde, dem Haufen verwühlter Kleider und Glieder, lief er vorbei bis in die hinterste Ecke des Raumes. Er begann zu hacken, mit rasend schnellen, scharfen Schlägen. Das Stroh des Bodens spritzte auf, blendete seine Augen. Schneller noch fielen seine Schläge, da endlich kam er auf Erde, kühle, dunkle, tote Erde. Sanfte Ruhe umfing ihn, er kniete nieder, breitete die Arme aus und maß so die Länge einer Grube ab. In grauem Rechteck entstand sie schnell, scharfkantig und sauber ausgeglättet. Er lief zurück zu der Leiche, ergriff sie an den Falten der Kleider und schleifte sie in die Grube. »Es muß Ordnung sein!« flüsterte er vor sich hin.
Dieser drangende Gedanke, der ihn rettete vor dem Begreifen des Geschehenen, war wie eine triebhafte, erschütternde Rechtfertigung dessen, daß er ahnungslos, aber furchtbar die Ordnung, den Sinn des Seins durchbrochen hatte.
»Es muß Ordnung sein«, war jetzt der Trieb seiner Seele, wie vorher grauenhafte Zerstörung der Trieb seines Körpers gewesen war.
Die Grube war zu klein. Ausgestreckt ragte der Kopf des Kindes daraus hervor. Er sah in der Dunkelheit ihn nur als einen kleinen, grauen Hügel, der sich nicht einglätten wollte in die Ebene der Grube. Er beugte sich nieder, griff in die mit hartem Stroh vermengten Haare des Kopfes, hob ihn, drehte den Nacken nach oben, und mit einem Schlag der Hacke zerschmetterte er die zarte Wirbelsäule, das kleine Haupt sank herab, tief bis auf die kleine Brust. Doch durch den Schlag erschüttert, war der kleine Körper weiter geschnellt, die Füßchen ragten jetzt am anderen Ende der Grube über ihren Rand. Mit der Hacke den Leib des Kindes in der Mitte festhaltend, stieß er mit den Füßen dessen beide Knie hoch, so daß die Beinchen, an den Leib angezogen, mit dem Haupt sich fast berührten, einander zugeneigt die kleinen Glieder nun ruhten, wie einst, ungeboren, in der dunklen Grube des mütterlichen Leibes.
Im Dunkeln schüttete er dunkle Erde auf. Mit den Händen die kühle, schwere Krume fassend, warf er sie in die Grube, dann schichtete er mit der Hacke das hohe, dichte Bodenstroh noch darüber. Doch alles völlig zu ebnen, gelang ihm nicht, noch immer zeigte das kleine Grab an Kopf- und Fußenden geringe Erhöhungen. Heißer, modriger Staub mischte sich in seinen Atem, der alte Durst quälte ihn von neuem; ohne noch einmal zurückzusehen, verließ er die Scheune.
Der strahlend helle Hof war jetzt voller Leben. Die wenigen Minuten bis zum Melken waren vergangen. Brüllend, stampfend standen die Kühe da und boten die gefüllten Euter den Melkerinnen dar, die Milch schäumte weiß in die blitzenden Gefäße nieder. Aus dem Hause trat der Herr, strich mit dem ruhigen, guten Blick über den Hof und ging dann, begleitet von einer Magd, die einen großen, sauber verdeckten Korb an den kräftigen Armen trug, den Weg zum Wald, wo er den Fällern und den Söhnen die Vesper brachte. Dort wollte er bis zum Abend bleiben und mit den anderen heimkehren.
Emma stand zwischen Hof und Haustür und zählte die Tröge, die die Laufbuben und Mägde milchgefüllt zum Keller schleppten. Eine junge Magd eilte zur Haustür und läutete die Glocke zur Vesper.
Von der Scheune Nummer vier kam der alte Güse, der von seinem Dach schon langsam herabgeklettert war, als er die ersten Kühe auf den Hof zutreiben sah. Neben ihm ging langsam Fritz, doch als die Glocke ertönte, stürzte er vor, als erster trat er in die Küche, ergriff gierig seinen Becher mit Milch und trank. Lange hielt er die kühle, süße Flüssigkeit in seinem Mund, ließ sie auf und nieder wogen, ehe er den Schluck in die Kehle rinnen ließ.
Vom Ententeich herauf kam die kleine Hirtin Minna gelaufen, ließ sich von Emma die Vesper für sich und die Genossin geben und lief wieder davon. Die Frau eilte geschäftig zwischen Küche und Speisekammer einher. Die Beeren, fertig gekocht, mußten in Gläser gefüllt und abgekühlt werden, im Milchkeller der morgendliche Rahm abgenommen und verbuttert, das Futter für den Abend, das Essen für die Nacht zugerichtet werden. Der Herr hatte, nach dem Abschluß des guten Geschäftes mit dem Viehhändler einen Augenblick in die Küche tretend, verkündet, daß Johanni heute abend ein wenig gefeiert werden solle, da die Hammel so gut gehalten und brav gemästet gewesen seien, die er eben verkauft. Die Frau solle die Abendtafel vor dem Hause richten und ein Fäßchen Bier und Beerenwein bereithalten. Daher war alles in freudiger Eile, in festlicher Erwartung. Die Arbeit flog von den Händen, eines half dem andern, der Feierabend sollte bald und in schöner Ruhe begonnen werden.
Die Nachmittagsstunden vergingen schnell. Nach sechs Uhr kehrte der Herr mit den Söhnen und den Arbeitern aus dem Holz zurück. Die Knaben schleppten große trockene Äste und Abfall von den Stämmen mit sich, liefen geschäftig den Hof hin und her, um einen Scheiterhaufen zu errichten, den sie in der Dunkelheit entzünden wollten zur Feier der Johannisnacht. Karl, der älteste Sohn, lief zum Dachvorsprung der Scheune, wo die Geräte hingen für die Sommerarbeit, um sich eine Axt zu holen, die Zweige und Stämme für den Scheiterhaufen zu behauen. Zu seinem großen Erstaunen fand er da Fritz in tiefem Schlafe auf dem Boden liegen. Er stieß ihn an und weckte ihn. Fritz schlug seine großen, schlafesklaren Augen auf, sprang auf die Beine, ging taumelnd ein paar Schritte, versuchte sich zu besinnen, denn er wußte nicht mehr, wie er hierher und zu dem tiefen Schlaf gekommen war. In kindlicher, schamhafter Verwirrung lachte er mit, als Karl ihn neckte, daß er heute so fleißig schlafe. Fritz suchte ihm eine kleine, leichte Axt aus, die Zweige zu behauen, und plötzlich sah er, daß die Stelle, wo der Grabspaten mit langem Stiel hängen mußte, leer war. Suchend lief er um die Scheune herum und erblickte die Hacke auch, die noch an der offenen Scheunentür lehnte. Er ergriff sie schnell, um sie an ihren alten Platz zu bringen. In demselben Augenblick bog Emma, seine Mutter, vom Schafstall kommend, um die linke Ecke der Scheune und stand vor ihm. Sofort fragte sie: »Was macht die Hacke hier? Gehört die in die Scheune?«
Fritz sah die Mutter an, dann blickte er auf die Hacke nieder, schaukelte sie leise an ihrem langen Stiel in seiner Hand hin und her. »Ich habe sie wohl ein bißchen gebraucht!« sagte er.
»Ach was, hänge sie schleunigst an ihren Ort, wo sie hingehört! Was ist das für eine Ordnung?« schalt die Mutter streng und ging weiter.
Fritz eilte und hing die Hacke an ihren Platz. Dann ging er in den Hof zu den Knaben, die um den Scheiterhaufen bemüht waren. Er fühlte sich leicht, weich und froh, es zog ihn zu den Menschen, er gesellte sich seit langen Jahren zum erstenmal wieder zu den Brüdern, half mit jungenhafter Freude und Heiterkeit, den Scheiterhaufen hoch in einem mächtigen, sauberen Quadrat aufzubauen.
Rings um den Hof erhob sich noch einmal ein großer Tumult. Alle Herden wurde eingetrieben, die Pferde getränkt und gestriegelt. In einer Stunde sollte alles Vieh versorgt, die Ställe geschlossen, die Gerätschaften verwahrt, das Feuer im Herd verlöscht sein. Die große, weißgescheuerte Tafel stand schon vor der Tür, mit Bänken und Stühlen umgeben, mit den irdenen Eßschüsseln und den kleinen Krügen für Wein und Bier besetzt. Die jungen und flinken Knechte und Mägde drängten sich schon um den schönen steinernen Trog des Brunnen und wuschen sich Arme, Hände und Füße, während die älteren bedächtig nachkamen, die Ärmel der Hemden hochschoben, in Eimern sich Wasser auffingen und etwas abseits von den andern sich wuschen. Zur rechten Zeit ertönte die Glocke zum Essen, alle strömten zu der großen, verheißungsvoll aufgedeckten Tafel.
Bis jetzt war das Kind von niemand vermißt worden. Die Mutter glaubte es bei den Hirtinnen am Teich, die Hirtinnen hatten längst vergessen, daß es von ihnen weg zum Hause gegangen.
Читать дальше