An Land beginnt die Glocke von Port Elizabeth die Weihnacht einzuläuten. Wie bei einem Weihnachtstransparent erleuchten sich die Fenster der Kirche mit goldgelbem Petroleumlicht. Vor ihrem Schein sehen wir die Schwarzen zum Gottesdienst gehen. Schnell verscheppert der Glockenklang im Summen der Zikaden und im Singen der Baumfrösche – ein Geräusch so anhaltend gleichmäßig, daß man es nach einiger Zeit nicht mehr wahrnimmt. Stille umgibt uns.
Der Pfarrer dort drüben erzählt seinen Pfarrkindern nun die Weihnachtsgeschichte. »Es begab sich aber zu der Zeit …« Mit all der Intensität, zu der jeder Neger fähig ist, lauscht die Gemeinde, wie das Christkind in die Krippe gelegt wird. Die Mammies, deren Geburtenfolge ja unaufhörlich ist, bekommen jetzt gewiß schon ganz runde Kulleraugen bei der heiligen Vorstellung, wie schön, wie süß mit rosa Hand- und Fußballen dieses Baby in der Krippe gewesen sein muß. Und die Hütte, in der die Krippe stand, gleicht so sehr ihrer eigenen dort am Hang: vier Holzvvände, Stallaterne, Stroh, Kuh, Esel, Schaf. »Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend …«
Später kommt schwach der Klang eines Chorals zu uns hergeweht. Aha – wir lächeln und machen uns bereit, zur »Kinya« hinüber zu rudern – jetzt dürfen sie singen, laut und mit verhaltenem Taktwiegen des Körpers, ganz erfüllt von der Geschichte, die auch das einfachste Gemüt versteht, und ganz hingegeben dem Takt, den auch der feierlichste Choral hat.
Bong-bong, bing-bang – so klang es schon wenig später vom Ufer her, als die Gemeinde aus der Kirche kam. In den Hütten gingen die Stallaternen an, und Musik, Musik klang über die dunkle Bucht.
Peter segelte am zweiten Weihnachtstage zurück nach Barbados. Auf Antigua wollen wir uns wiedertreffen, wohin er in Geschäften segeln wird. Wir gingen mittags zur Landungsbrücke, wo der Schooner aus Kingstown mit der Steelband erwartet wird.
Auf der Landungsbrücke drängt sich eine aufgeregte, buntgekleidete Menschenmenge. Männer, lässig unter zu kleinem Hut; Mädchen, das Haar: leg dich oder ich pomade dich, das Kleid: hauteng, besonders am Po; Mammies, einem baldigen Ereignis wohlgeschwellt entgegensehend; alte Herren, etwas zerlumpt doch Häuptlingshaltung; dazwischen Kinder, Kinder, sehr liebevoll und sauber angezogen.
Das alles wogt und wallt und schnattert durcheinander. Die Steelband kommt – haha, hoho! Während der Schooner anlegt, spielt die Steelband mit ihren aufgesägten Benzinfässern bereits an Deck. Und an Land beginnt sofort der Tanz. Der Opa tanzt, das Kleinkind tanzt, die Männer vergessen ihre Lässigkeit, die Mädchen die Schönheit ihrer Frisur, die Mammies das baldige Ereignis. In unbändiger Ausgelassenheit zieht die Bevölkerung, voran die Steelband, zum Schuppen des Feuerwehrautos. Der uralte Ford – springt sein Motor nicht mehr an? – wird herausgeschoben und das Fest beginnt.
Während des Krieges gab es keine Musikinstrumente. Leere Benzinfässer jedoch lagen haufenweise herum. Man muß schon ein westindischer Neger sein, um in einem leeren Benzinfaß ein Musikinstrument zu sehen. Sie versuchten es – bongbong! Und siehe: jedes Faß hatte einen anderen Klang – bangbang! Durch Aufschneiden der Fässer in verschiedenen Längen konnten sie jede gewünschte Klangnuance erreichen.
Man kann auf einer Säge geigen. Es gibt einen jaulend-wehmütigen Ton. Diesen Ton stelle man sich getrommelt vor, gleichzeitig auf vielen Fässern verschiedener Klanghöhe. Steelbands machen eine wehmütig-singende Musik, steigern sich zu heulendem Paukenschlag. Trommler und Tanzende werden eins in Rausch und Ekstase.
Abends kommen wir nach einem Spaziergang am Feuerwehrschuppen vorbei. Bongbungbangbuiiim! Sie tanzen. Wir stehen fassungslos.
Gebleckte Zähne, schweißnasse Gesichter, rollende Augen, zuckende Glieder. Unheimlich wirken die Überreste europäischer Kleidung an diesen Körpern. Sie tanzen keinen afrikanischen Buschtanz, keinen westindischen Kalypso, auch keinen amerikanischen Rock’n roll. Sie tanzen das absolute Nichts, um sich zu vergessen. Unsichtbar steht hinter ihnen der Schatten des Weißen Mannes. Denn unsere Vorväter brachten ihre Vorväter in Ketten hierher.
Sie tanzen rasend, gleich werden sie Fackeln entzünden.
Sollen wir uns verstecken hinter dem uralten, nutzlosen Ford? – Wie mutlos.
Sollen wir verächtlich den Kopf schütteln ob dieser barbarischen Tanzerei? – Wie herzlos.
Morgen, die Ruhe vollkommener Erschöpfung wird über das Dorf gefallen sein, müssen wir absegeln.
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St. Lucia, im Januar 1965 |
Wir segelten nach Norden an der Insel St. Vincent vorüber, die ihre 1000 Meter hohen Berge dunkel, fast drohend zu den Wolken hob. Wir gingen unsere üblichen Ruderwachen. Die Nacht wurde ruhig mit flauem Ostnordost-Passat. Im Lee der Insel nahmen wir die Maschine zur Hilfe.
Bei Sonnenaufgang standen wir zwischen St. Vincent und St. Lucia. Der Passat frischte auf und schuf einen harten, kurzen Stromseegang. Wir wurden stark nach West versetzt. Die Pitons, zwei steile Bergkegel an der Südwestküste von St. Lucia, färbten sich sonnenbeschienen. Zum Mittag verloren sie alle Farben, als sich Hitze dunstgleißend über die Insel legte.
In Port Castries, dem Hafen von St. Lucia, klarierten wir ein, kauften Proviant und ergänzten Wasser. Wir machten anschließend einen Gang durch die Stadt. Schiefe Negerhütten, moderne Neubauten und wie verfallen wirkende Häuser im Kolonialstil säumten die heißen Straßen. Alles, was wir sahen, wirkte arm und verstaubt. Bunt waren nur die hölzernen Autobusse. Über die schreienden Farben ihrer Karosserien waren großzügig Bilder gemalt mit erklärenden Namen. »Neptun«, »Gliding Star«, »Roaring Lion«.
Ich fragte einen der Busfahrer nach dem Sinn solcher künstlerischen Kraftentfaltung.
»O mistarr«, sagte er und zeigte grinsend sein Raubtiergebiß, »das sind die Bus-Linien. Ich hierr mit ›Flying Crrocodile‹ fahrre zurr Ostküste – zweimal am Tag.«
Während wir auf dem Rückwege diese Errungenschaft gesprächsweise in Hamburg einführten – »Tobender Elefant« nach Blankenese, bitte einsteigen!« – dämmerte uns, daß Busnummern den Schwarzen nichts sagen würden, da sie keinen Sinn für Zahlen haben.
Am nächsten Tage segelten wir in die 5 Seemeilen südlich gelegene Marigot Bay. Ihre Einfahrt liegt schmal zwischen hohen Felsen. Hinter ihnen weitet sich die Bucht, die von einer flach-sandigen Miniaturlandzunge geteilt wird. Der hintere Teil, in dem wir ankern, bildet einen vollkommen geschützten Naturhafen. Er ist von Mangroven umwachsen. Hinter ihrem Dickicht heben sich Palmen. Am inneren Buchtufer liegt ein kleines Hotel auf blumenbunter Hangterrasse.
Als ein englischer Admiral zum Ende des 18. Jahrhunderts auf St. Lucia landete, um die Insel zum soundsovielten Male den bösen Franzosen zu entreißen, geriet er in arge Bedrängnis. Seine Landetruppen kamen nicht voran, und seine Landungsflotte wurde von einem französischen Geschwader hartnäckig attackiert. Man schickte dem »löwenhaft kämpfenden« Admiral ein Verstärkungsgeschwader aus Antigua, das die französischen Schiffe zwar fortlocken konnte, aber den Franzosen ebenfalls nicht gewachsen war. Die Engländer ergriffen die Flucht und wären wohl in Grund und Boden gebohrt worden, hätte ihr Geschwaderkommandant nichts von der Marigot Bay gewußt. Er fand die schmale Einfahrt, ließ einsegeln und im hinteren Teil der Bucht ankern. Die hohen Schiffsmasten wurden mit Palmenwedeln getarnt. Die Franzosen suchten lange nach den »vom Meer verschluckten« Engländern, besannen sich dann auf ihre Hauptaufgabe und kehrten um. Sie kamen zu spät. »Der Löwe von St. Lucia«, befreit von den ihn in den Schwanz zwickenden Kriegsschiffsschwärmen, hatte Port Castries inzwischen erobert. Zum soundsovielten Male sank die Trikolore in den Staub, und der Union Jack begann zu flattern. Er flatterte nicht lange. Die Franzosen kamen wieder.
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