Wind? – immer noch kein Wind. Einige Stunden später: Wind? – immer noch kein Wind. Einige Tage später: Wind? – immer noch kein Wind. Nur immer ein Hauch – aus Ost, aus Nord, aus Süd und West: falsche Versprechungen, die den Rudergänger zu einsamer Verzweiflung trieben.
Achteraus, wo früher einmal das Kielwasser geleuchtet hatte, zeigten sich jetzt nur einige lächerliche Blasen. Voraus, wo die Bugwelle bis zum Deck hinaufgesprüht hatte, geschah nichts als unbeholfenes Plantschen. Sollten wir schreien in Verzweiflung und Einsamkeit, zusammenbrechen unter der Last des Nichts? Wie stark waren eigentlich unsere Nerven?
Wir sprachen miteinander. Unsere Worte drangen durch die Sphären unserer Müdigkeit und weckten Zuversicht. Sie blieb stärker als die äußeren Zeichen unserer Fahrt. Sie mußte uns auch ohne Bugwelle, die gischtet, und ohne Kielwasser, das leuchtet, dem Ziele näher bringen. Durch sie wurden die Meter wirklich zu Seemeilen. Wir kamen ja immer noch voran, langsam zwar – Herrgott, wie langsam! – aber voran. Am zehnten Tage, nachdem Schauer und Böen – und unsere große Angst – die flauen Winde eingeleitet hatten, kam endlich der Passat wieder. Wir waren nun 26 Tage auf See – doch hatte das geringe Bedeutung.
Von Bedeutung war, daß sich der Wind aus Nordnordost stärkte. Die Ruderpinne war nicht mehr ein Stück totes Holz. Die schlaffen Segel formten sich, wölbten sich, begannen zu arbeiten. Eine Bugwelle zauberte neben die Bordwände Schaumstreifen, die sich verdichteten, zu knistern anhuben und schließlich eine leuchtende Spur hinterließen. Der Passat erreichte seine alte Kraft. Die schweren Wolken hoben sich. Aus ihren bewegungslosen Massen lösten sich kleine Schönwetterwolken und zogen, zogen mit dem erwachten Winde.
Wir fühlten Erleichterung.
Uns wurde alles neu geschenkt, der Tag, die Nacht, das Schiff, die Segel, der Himmel, die See – sogar unsere Müdigkeit. Denn endlich geschah etwas ringsum. Unsere Stimmung löste sich aus ihrer Verbissenheit. Es konnte geschehen, daß der müde Rudergänger ein Lied sang.
Wir mußten weiterhin unsere Ruderwachen gehen, da der Wind zu seitlich einkam, um das Setzen der Passatsegel zu gestatten. Aber »Kairos« lief wieder 4 bis 5 Knoten Fahrt. Das gab uns neue Kraft. Kompaßrose und Steuerstrich, von den übermüdeten Augen kaum noch erfaßt, brannten sich ins Gehirn ein.
»Kairos« segelte.
Wir fürchteten, daß unsere Müdigkeit Fehler in der Navigation verursachen könnte, Ablesungsfehler an Sextant und Chronometer, Rechenfehler – immer wieder kontrollierten wir uns gegenseitig.
»Kairos« segelte durch die schnell grob werdende See. Manchmal fiel die Müdigkeit von uns ab. Geschah es gleichzeitig bei beiden, so sprachen wir von der plötzlich nah gerückten Ankunft. Noch 400 Seemeilen bis Barbados! Die große Freude der Erfüllung begann, unsere Seelen zu stärken. Wie schön war es doch, auf einem guten Schiff einem guten Ziel entgegenzufahren; wie schön war es, gemeinsam in aller Einsamkeit den richtigen Weg zu finden; wie schön, täglich der Natur gegenüberzustehen und ihre Gesetze verstehen zu lernen. Und wir sprachen über den Preis, den der Mensch dafür zu zahlen hat. Einsamkeit, Erschöpfung, Müdigkeit und Angst – in der Erfüllung wandelt sich alles zum Guten.
»Kairos« segelte.
»Wenn wir nach unserer Fahrt gefragt werden, wie sie war«, sagte ich am Abend vor unserem Landfall, »so werden wir die Fragen beantworten können – gewiß. Fragen von Seglern, von Reportern, von Navigatoren, von Romantikern –« Ich nahm Elga die Pinne ab, denn meine Wachzeit hatte begonnen. Die Segel über uns standen wie schwarze Flügel vor dem Leuchten im Westhimmel. »Aber werden unsere Antworten etwas Wahres aussagen können, ich meine: über das Ganze? Wir waren doch nur ein Teil. Das Ganze war der Atlantik.«
Wir blickten zurück, wo unser leuchtendes Kielwasser nach kurzem Schäumen spurlos verschwand. Die Nacht hob sich dort über den Horizont. In ihr beschlossen lag der Aufbruch des nächsten Tages – aller Tage, der vergangenen wie der kommenden.
Als ich morgens an Deck kam, um meine Morgendusche zu nehmen, sah ich backbord achteraus drei Tölpel fliegen, die in charakteristischen Sturzflügen Fische fingen. Diese Vögel nisten an Land und fliegen tagsüber zum Fischfang seewärts.
Eine Stunde später sichtete Elga einen Tanker 5 Seemeilen entfernt auf Gegenkurs. Wie gebannt starrten wir zu der Erscheinung hinüber. Außer uns und unseren Dingen an Bord hatten wir ja seit 30 Tagen nichts Menschliches gesehen. Da zog er seinen Kurs, hob sich in den Seen, fiel gischtend in die Wellentäler und war richtig schön anzusehen.
Mittags kam die letzte astronomische Standortbestimmung. Schon am Vortage hatten wir unseren Standort von der Atlantik-Karte, auf der Barbados ein winziger Punkt ist, in die Ansteuerungs-Karte übertragen, die Barbados in allen Einzelheiten zeigt.
»Noch 36 Seemeilen bis zur Nordspitze!«
Elga rief es mir aus der Kajüte vom Kartentisch zu. Ich blickte vom Kompaß auf – eigentlich nur, um meine brennenden Augen zu entspannen. Als sich die Augen an die Ferne des Horizonts gewöhnt hatten und schon wieder zurückkehren mußten zu der flimmernden Enge der Kompaßrose – da sahen sie im Westen einen schmalen, grauen Strich. Er war ganz unbedeutend unter der Fülle hoher Kumuluswolken. Aber er war trotzdem nicht zu verkennen.
Und ich sagte es zu Elga, so wie man von einem Wunder spricht: »Elga, es ist Land voraus.«
Sie kam an Deck und blickte nun auch zu dem schmalen, grauen Strich. Dann ging sie zum Bug und stand dort lange wie angenagelt. Und dann kam sie zurück und weinte und sagte: »Ja, es ist wirklich Land.«
Es ist von unserer Atlantikfahrt nun nicht mehr viel zu berichten. Im Laufe des Nachmittags wurde aus dem grauen Strich eine Insel, auf deren Nordspitze wir zusteuerten. Unsere Navigation war so genau, daß wir den Kurs nicht zu korrigieren brauchten. Das beruhigte uns.
Während die Sonne unterging, konnten wir schon Einzelheiten an Land erkennen. Als wir ins Lee der Insel liefen, blinkten bereits Leuchtfeuer. Durch die Landmasse aufgehalten, verlor der Passat an Kraft, wehte schließlich gar nicht mehr. Der Seegang ließ nach. Stille umgab uns.
»Riechst du die Blumen?« fragte Elga aufgeregt.
Wir drehten »Kairos« bei und legten uns schlafen, nachdem wir uns überzeugt hatten, daß er leewärts abtrieb. Denn das Einlaufen in die Carlisle Bay vor Bridgetown wollten wir am Tage erleben. Wir wollten das neue Land sehen und es sollte uns sehen: mit allen Flaggen gesetzt! Ein Fest sollte uns das werden, ein Finale unter flatternden Farben und mit rasselnder Ankerkette als Schlußakkord.
So geschah es dann am Sonntag, dem zweiten Advent. Der Anker fiel. Die Kette lief aus und warf vertrocknete Krumen kanarischen Sandes aufs Deck. Wir stießen sie lachend über die Reling, wo sie ins glasklare Wasser fielen und langsam zu Boden sanken.
 |
Bequia, Weihnacht 1964 |
Wir ankern in der Admiralty Bay vor Port Elizabeth an der Leeseite der Insel Bequia. Namen sind Schall und Rauch. In dieser Admiralitätsbucht haben in vergangenen Jahrhunderten gewiß mehr Piraten als Admiräle geankert. Und Port Elizabeth besteht aus einer Handvoll Negerhütten um eine steinerne Kirche.
Es ist heiß. Wir haben unser Sonnenpersennig aufgetakelt, das vermittels starker Holzlatten vom Mast bis zum Heck und über die ganze Breite des Schiffes gespannt werden kann.
Die Bucht liegt vollkommen windlos, still wie ein See. Die Berghöhen mit ihren Spiegelungen auf der teilweise silbrig geriffelten Wasserfläche, die Fächerlinien der Palmen, das Weiß des Strandes, die Negerhütten mit blau aufsteigendem Rauch, die Insel-Schooner und eine amerikanische Ketsch vor Anker: es ist ein Bild, wie es noch nicht gemalt wurde.
Читать дальше