Seine Ex schluchzte. »Ich habe alle Freunde, Bekannte und Verwandte angerufen. Da ist er nicht. Wenn er nicht bei dir ist, muss er entführt worden sein.«
»Alessia, ich …« Es klingelte. »Entschuldige, ich glaube, die Polizei ist da. Ich melde mich später zurück.«
Sobek eilte in den Vorraum der Kanzlei, wo sich am Platz seiner Sekretärin der elektrische Türöffner mit Bildschirm befand. Sein Büro befand sich im Obergeschoss, das Erdgeschoss nutzte ein befreundeter Notar. Man hatte sich geeinigt, das Haus mit Kameras zu sichern. Der gesamte Eingangsbereich wurde erfasst, damit sich keine ungebetenen Gäste Zugang zum Haus verschaffen konnten. Sobek stutzte nun, als er auf den Bildschirm schaute. Da stand Torben vor der Tür. Er wirkte eingeschüchtert, nicht so aufgeweckt wie sonst. War er von zu Hause weggelaufen? Hatte es Streit mit Alessia oder den Großeltern gegeben, die mit im selben Haus lebten? Hatte er vielleicht sogar mitbekommen, dass seine Mutter ihm den Besuch ins Disneyland verbieten wollte? Warum war er dann nicht sofort zu ihm gekommen? Wo hatte er die Nacht verbracht?
Sobek betätigte den Türöffner und ging sofort zur Etagentür, um sie aufzuschließen. Er hörte Schritte im Treppenhaus, konnte kaum erwarten, seinen Sohn in die Arme zu schließen. Die Erleichterung darüber, dass es ihm gutging, war grenzenlos. Endlich nahm Torben die letzte Treppenbiegung und kam verhalten auf ihn zu. Er wirkte blass, als sei er gesundheitlich angeschlagen oder habe in der Nacht keinen Schlaf gefunden. Erst jetzt bemerkte Thomas Sobek, dass Torben nicht allein kam. Seine Begleitung trug Sneakers, die kaum einen Laut verursachten. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass man das Gesicht nicht erkennen konnte. Den Anwalt beschlich ein mulmiges Gefühl, eine düstere Vorahnung, dass die Person nichts Gutes im Schilde führte.
5. Kapitel
Das Gebäude in der Massener Straße, in dem sich die Kanzlei von Thomas Sobek befand, wirkte auf Maike Graf wie ein überdimensionaler Würfel aus Sandstein und Glas. Die hoch am Himmel stehende Sonne reflektierte ihre Strahlen in den Glasflächen und ließ Maike blinzeln. Dennoch konnte sie sehen, dass sämtliche Fenster von innen mit Jalousien verdunkelt waren. Maike las auf der Tafel, die als Wegweiser auf dem Bürgersteig stand, dass sich das Büro des Anwalts im ersten Stock befand. Mit Blick auf ihre Armbanduhr erkannte sie, dass sie viel zu früh angekommen war. Die Info von Sören Reinders, sie solle bei der Durchsuchung der Büroräume zugegen sein, hatte sie noch in ihrer Eigentumswohnung erreicht. Eigentlich war heute ihr freier Tag, aber beim Verschwinden eines Jungen war jeder Mitarbeiter gefragt. Kurz nach dem Anruf von Reinders hatte Alessia Sobek sie angerufen und ihr mitgeteilt, ihr Mann Thomas habe sie angerufen. Er habe in der Kanzlei übernachtet, wo er sich immer noch befinde, Torben sei nicht bei ihm gewesen. Mit etwas Glück hielt Thomas Sobek sich auch jetzt noch in seiner Kanzlei auf.
Maike beobachtete nun im Schatten eines Baumes vor dem Gebäude zahlreiche Passanten, die bereits jetzt zur frühen Mittagszeit in die Innenstadt strömten, um die kulinarischen und kunsthandwerklichen Stände des italienischen Festes zu besuchen. Am nahen Verkehrsring rauschten heute deutlich weniger Autos vorbei, als es an Werktagen üblich war. Ein silbergrauer Porsche-Cayenne mit Dortmunder Kennzeichen bog vom Ring ab und kam auf sie zu. Maike erkannte Staatsanwältin Lina von Haunhorst am Steuer. Sie fuhr langsam an ihr vorbei, offensichtlich konzentriert nach einem Parkplatz suchend.
»Was macht die denn hier?«, murmelte Maike, da sie die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft nur bei Einsätzen im Bereich der organisierten Kriminalität kannte. Und darum ging es in diesem Fall wohl nicht. Maike fühlte sich etwas unwohl, als sie sich vorstellte, gleich allein mit der Staatsanwältin auf den Rest des Teams warten zu müssen. Sie hatte in der Vergangenheit gelegentlich mit ihr zu tun gehabt und sie als arrogant und egozentrisch empfunden. Von Haunhorst parkte ihren Wagen nun neben der Kanzlei an der Hauswand, stieg aus und kam auf Maike zu.
»Guten Morgen … oder besser guten Tag. Da ich schon in Unna bin, möchte ich mir kurz einen eigenen Eindruck verschaffen. Sind Sie die Vorhut? Wo bleiben Ihre Unnaer Kollegen? Oder heißt es Unneraner Kollegen? Ist die Sekretärin von Herrn Sobek wenigstens schon mit dem Schlüssel da?«, begann sie hektisch.
Maike hatte keine Ahnung, wie die Bevölkerung von Unna sich korrekt bezeichnete. Im Sprachgebrauch fand man sowohl Unnaer als auch Unneraner. Deshalb ging sie nur auf die letzte Frage der Staatsanwältin ein. »Guten Tag, Frau von Haunhorst. Nein, Frau Brandt ist noch nicht eingetroffen. Aber Alessia Sobek informierte mich darüber, dass sich ihr Ex-Mann in seiner Kanzlei aufhalten soll, angeblich allein. Wir könnten also einfach klingeln.«
Lina von Haunhorst blickte die Hausfassade des Bürogebäudes hoch, als ob sie nachschauen wollte, ob Sobek tatsächlich in seinem Büro war. »Das halte ich für keine gute Idee. Sollte Thomas Sobek seinen Sohn doch bei sich haben, wird es besser sein, wir kündigen uns nicht durch vorzeitiges Klingeln an. Er könnte sich bedrängt fühlen und zu einer Dummheit hinreißen lassen. Warten wir auf Frau Brandt.«
Maike nickte und beobachtete die Staatsanwältin, wie sie eine Spange aus ihrem Haar löste, es neu zusammenraffte und wieder hochsteckte. Dann schob sie ihre große Sonnenbrille ins Haar und blickte auf ihre Armbanduhr.
»Die Kollegen müssten längst hier sein!«
Im selben Moment näherte sich mit rasantem Tempo ein cremefarbiger Opel Adam mit schwarzem Dach. Die Fahrerin bog rasant in eine Einfahrt neben der Kanzlei und kam Augenblicke später mit großen Schritten auf sie zu. Maike schätzte die korpulente Frau auf Mitte 50. Sie trug ein weit fallendes buntbedrucktes Sommerkleid mit Spaghettiträgern, dazu eine weiße Strickjacke, offene Sandalen und einen breitkrempigen Strohhut, unter dem eine rotbraune Lockenpracht hervorquoll. Man sah deutlich, dass sie ihren Campingurlaub eilig unterbrochen hatte.
»Sabine Brandt, die Sekretärin von Herrn Sobek«, stellte sie sich vor und reichte Maike und der Staatsanwältin die Hand. »Entschuldigen Sie die Verspätung, aber ich fahre ungern auf der Autobahn. Über Land hat es deutlich länger gedauert. Kommen Sie, ich schließe Ihnen auf.« Sie eilte mit einem Schlüsselbund in der Hand auf den gläsernen Eingang zu und öffnete die Tür. Maike Graf und Lina von Haunhorst folgten ihr über weiße Marmorstufen ins Obergeschoss, wo sie nach dem richtigen Schlüssel suchte.
»Einen Moment, bitte«, mahnte die Staatsanwältin und betätigte nun doch die Klingel. Gleichzeitig legte sie den Zeigefinger an den Mund und lauschte an der Tür. »Nichts«, sagte sie zu Maike. »Entweder hat Herr Sobek seine Frau angelogen oder er hat die Kanzlei bereits wieder verlassen. Wann hat er mit seiner Ex-Frau gesprochen?«
»Vor über einer Stunde«, erwiderte Maike.
»Na, dann schließen Sie mal auf, Frau Brandt!«
Sobeks Sekretärin steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete. »Komisch«, murmelte sie dabei. »Sonst schließt er immer zweimal ab. Jetzt war die Tür nur zugezogen.«
Sie traten in ein mit schwarzem Marmor gefliestes Foyer, das dominiert wurde von einem halbovalen Tresen, verkleidet mit Aluminium, obenauf eine helle Marmorplatte. Dahinter waren ein Computerbildschirm und eine Telefonanlage zu sehen. Sabine Brandt betätigte einen Schalter, der die Jalousien in die Höhe beförderte und das Tageslicht durch eine große Fensterfront einließ. Vom Foyer gingen drei Türen ab. Laut der Sekretärin führte eine zur Toilette, eine in den Konferenzraum und eine in Thomas Sobeks Büro.
»Wofür benötigt Herr Sobek einen Konferenzraum?«, fragte Lina von Haunhorst, als sie einen Blick in das Zimmer warf, in dem ein großer Tisch mit zehn schweren Lederstühlen rundherum stand. »Sind hier noch weitere Mitarbeiter beschäftigt? Andere Anwälte, eine weitere Sekretärin?«
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