Maike nickte. »Vielen Dank für die Information.« Sie fischte einen Beweissicherungsbeutel aus ihrer Jacke und bat den Arzt, die Spritze hineinfallen zu lassen. »Bleibt zu hoffen, dass Torben vor dem Mord an seinem Vater betäubt wurde.«
Der Notarzt nickte. »Möchten Sie das Kind begleiten? Oder ist ein Verwandter anwesend?«
»Ich werde die Mutter sofort informieren. Bis sie kommt, würde ich gerne bei dem Jungen bleiben. Später bräuchte ich von Ihnen und den Sanitätern noch eine Speichelprobe für die Vergleichs-DNA.« Maike blickte fragend zu Staatsanwältin von Haunhorst und nahm dankbar deren Nicken wahr. Sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche. »In welches Krankenhaus wird der Junge gebracht?«
»Kinderklinik Dortmund, Beurhausstraße.«
Alessia Sobek war bereits beim zweiten Rufton in der Leitung. Maike hielt sich mit detaillierten Erklärungen zurück. Sie sagte nur, man habe Torben gefunden und es ginge ihm den Umständen entsprechend. Alessia Sobek solle in die Kinderklinik kommen, dort würde sie alle Einzelheiten von Maike erfahren.
6. Kapitel
Seit einer Ewigkeit verstecke ich mich auf diesem gruseligen, dunklen Friedhof. Ich hocke geduckt hinter einem Grabstein. Mein Herzschlag rast. Meine Glieder fühlen sich kraftlos an. Ich kann mich kaum beruhigen. Ich habe es tatsächlich getan!
Den Schlüssel zum Büro seiner Kanzlei habe ich in einen der Büsche geschmissen. Ich denke, es war ein kluger Schachzug von mir, die Tür hinter mir abzuschließen. Es hat mir sicher ein wenig Luft verschafft. Ich brauche Zeit, um von hier zu verschwinden.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich einen Menschen erschießen könnte. Ich kenne die Geschichte von Thomas Sobek, weiß, dass er Dinge getan hat, die nicht korrekt sind.
Aber rechtfertigt das einen kaltblütigen Mord?
Sobeks vor Schreck aufgerissene Augen werden sich in meine Seele brennen. Wie sie entsetzt auf den Lauf meiner Waffe starren. Er hatte Angst. Und er konnte nicht verstehen, warum er sterben soll. Hätte ich ihm das erklären sollen?
Ich habe es vorgezogen, zu schweigen. Ich musste mich auf meine Mission konzentrieren. Der Junge lag währenddessen bewusstlos auf der Liege. Ich würde es bedauern, wenn er im Unterbewusstsein mitbekommen hätte, was ich getan habe.
Thomas Sobek ist nun der dritte Mensch, der durch meine Verantwortung gestorben ist. Er wird nicht der letzte sein.
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich vieles anders machen. Aber nun muss ich mit meiner Schuld leben.
Ich bin ein Mörder!
7. Kapitel
Staatsanwältin Lina von Haunhorst setzte den leitenden Ermittler Jochen Hübner sofort nach seiner Ankunft über die aktuellen Ereignisse des Falles Torben Sobek in Kenntnis. Teubner beobachtete die beiden und bemerkte, wie vertraut sie miteinander umgingen. Das Team der Spurensicherung war bereits bei der Arbeit. Man hatte nach kurzer Besprechung beschlossen, den Tatort einzufrieren. Deshalb wurde ein 3-D-Laser-Scanner eingesetzt. Der Scanner konnte mit Hilfe von Laserstrahlen, die innerhalb von einer Minute und 41 Sekunden eine sogenannte Punktwolke erzeugten, ein 3-D-Bild generieren. Die Aufnahmen würden die Situation am Tatort konservieren. So ließ sich Sobeks Büro mit allen Details für weitere Ermittlungen sichern. Man konnte die Begebenheiten jederzeit rekonstruieren und aus verschiedenen Perspektiven ansehen. Auch bei einem späteren Prozess könnten die Aufnahmen helfen, das Geschehen besser nachzuvollziehen. Verändert worden war der Tatort zu diesem Zeitpunkt nur durch das Fehlen von Torben Sobek. Inzwischen waren die Kollegen der Kriminaltechnik bereits dabei, die vorhandenen Spuren zu sichern, zunächst untersuchten sie den engeren Tatort. Dazu gehörte in erster Linie Sobeks Büro, aber auch das Foyer, der Konferenz- und der Waschraum, sowie das Treppenhaus samt Eingangsbereich. Später würde noch der erweiterte Tatort dazukommen: Möglicherweise hatte jemand in der Nachbarschaft den Schuss gehört. Man musste die Fluchtwege checken, eventuelle Überwachungskameras prüfen und nach der Tatwaffe Ausschau halten, die der Täter vielleicht bei der Flucht weggeworfen hatte.
Teubner riss seinen Blick von einem DNA-Fachmann mit Ganzkörper-Schutzkleidung los, der gerade mit einem Wattestäbchen Abstriche von Stellen nahm, die der Täter angefasst haben könnte. Eine Polizeifotografin dokumentierte seine Handlungen. Da Teubner durch die Arbeit der Spurensicherer zunächst zur Untätigkeit verdammt war, gesellte er sich zu Sabine Brandt, die lethargisch hinter ihrem Tresen saß und ins Leere starrte. Der Notarzt hatte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt, ihr Mann war bereits informiert und würde sie mit einem Freund hier abholen. Die Sekretärin hatte sich vehement gesträubt, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Auch auf die Betreuung durch einen Polizeipsychologen hatte sie verzichtet.
Teubner trat auf den Empfangstresen zu. »Fühlen Sie sich in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten, Frau Brandt?«, fragte er leise.
Der Blick ihrer blaugrauen Augen klärte sich etwas. Sie schob den Wust ihrer Locken hinter ihre Ohren und hob zaghaft die Schultern. Schließlich nickte sie. »Ich verstehe das nicht und frage mich die ganze Zeit, wer ihm das angetan haben kann.«
»Das werden wir herausfinden. Die Kollegen von der Kriminaltechnik sind bereits bei der Arbeit. Der Tatort ist für uns so etwas wie das Verbindungsteil zum Täter. Wir versuchen, so viele Informationen wie möglich daraus zu lesen und alle relevanten Spuren zu sichern. Hatte Herr Sobek Feinde?«
Sabine Brandt verschränkte die Arme vor der Brust. »Feinde …« Sie seufzte. »Was heißt das schon? Natürlich hat er sich als Rechtsanwalt nicht nur Freunde gemacht. Aber ich wüsste niemanden, der ihn deswegen abknallen würde.«
Teubner überlegte einen Augenblick, wie er der Frau begreiflich machen konnte, wie wichtig ihre Aussage für die Ermittlungen war. »Frau Brandt«, begann er. »Die Aufklärungsquote bei Mord liegt in Deutschland bei über 90 Prozent. Sie ist so hoch, weil es meist eine Täter-Opfer-Beziehung gibt. Solche Verbrechen haben eine Vorgeschichte, die uns helfen könnte, den Täter zu ermitteln, wenn wir sie kennen. Da Herr Sobek hier in der Kanzlei erschossen wurde, deutet vieles darauf hin, dass sein Beruf mit dem Mord zu tun hat. Also überlegen Sie bitte genau: Gab es in letzter Zeit Schwierigkeiten mit Mandanten? Vielleicht ein Urteil, das als ungerecht empfunden wurde?«
Die Sekretärin rollte mit ihrem Stuhl vor den Bildschirm, dann fuhr sie den Computer hoch und tippte kurz auf der Tastatur. »Spontan fällt mir da nur ein Mandant ein. Warten Sie, ich öffne kurz den Terminplaner …« Plötzlich zeigte sie mit dem Finger auf den Bildschirm. »Hier! Sehen Sie? Am Dienstagnachmittag hatte er um 15 Uhr einen Termin. Bernd Büchner. Ziemlich penetrante Person. Fühlt sich zu Unrecht verurteilt. Dabei hat er nur eine Bewährungsstrafe bekommen. Der Mann arbeitet in Unna als Gästeführer. Hat seit dem Termin am Dienstag bestimmt fünf Mal angerufen.«
Teubner stützte seine Unterarme auf die helle Marmorplatte des Tresens und schaute auf den Bildschirm, den die Sekretärin zu ihm drehte. »Was hat der Mann verbrochen?«
Sabine Brandt blickte ihn zweifelnd an. »Das fällt unter die anwaltliche Schweigepflicht. Darf ich Ihnen das sagen?«
»Wir sind mit einer richterlichen Durchsuchungsanordnung hergekommen. Wir dürfen alle Akten konfiszieren. Schließlich bearbeiten wir einen Mordfall. Sie würden uns eine Menge Arbeit ersparen, wenn Sie mir den Grund der Verurteilung von Herrn Büchner nennen.«
»Also gut«, seufzte die Sekretärin. »Als er erfahren hat, dass seine Ex einen neuen Freund hatte, ist er ausgerastet. Er hat zunächst sein Auto gerammt, danach auch den Gartenzaun und damit einen Sachschaden in Höhe von 25.000 Euro verursacht. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr. Zudem muss er den Schaden bezahlen und die Gerichtskosten. Eine Rechtsschutzversicherung hat er nicht.«
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