»Nein. Ich bin die einzige Angestellte. Mein Chef arbeitet aber manchmal mit anderen Anwälten zusammen. Dann nutzt er den Raum. Oder wenn er es mit einer größeren Mandantschaft zu tun hat, zum Beispiel Firmenvertreter von großen Wirtschaftsunternehmen. Früher hat er nur Fälle im Strafrecht angenommen. Damit war er sehr erfolgreich. Dann hat er sich auf internationales Wirtschaftsrecht spezialisiert und bei der Rechtsanwaltskammer eine Prüfung abgelegt. Er darf sich nun Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht nennen, nimmt aber ab und zu auch andere Fälle an«, erklärte Sabine Brandt und Stolz klang aus ihrer Stimme.
Maike betrat den Konferenzraum und sah sich um. Auch hier waren die Fenster verdunkelt, so betätigte sie den Lichtschalter. Außer dem großen Tisch gab es noch ein Sideboard, in dem sich eine kleine Bar mit alkoholfreien Getränken befand. Nichts deutete auf die Anwesenheit eines Jungen. Maike löschte das Licht und kehrte ins Foyer zurück. »Dann müssten Sie uns bitte die Tür zu Herrn Sobeks Büro öffnen«, sagte sie. Sie hatte den Raum bereits betreten wollen, als Lina von Haunhorst sich für den Konferenzraum interessierte, hatte die Tür aber verschlossen vorgefunden.
Sabine Brandt drehte am Türknauf und stutzte. »Nanu«, sagte sie erstaunt und klopfte laut an die Tür. »Herr Sobek?«, rief sie und wandte sich, als keine Antwort kam, an die Staatsanwältin. »Er schließt sich manchmal ein, wenn er absolut ungestört sein will.«
Lina von Haunhorst trat vor und klopfte fest gegen das Holz. »Herr Sobek? Öffnen Sie bitte die Tür!«
Die drei Frauen lauschten, doch es folgte keine Reaktion. Die Staatsanwältin klopfte erneut, diesmal noch etwas lauter. »Nun machen Sie schon die Tür auf! Das bringt doch nichts.« Sie rüttelte am Knauf, als würde sich die verschlossene Tür dadurch öffnen.
Im selben Moment erklang ein Gong. Sabine Brandt lief hinter den Tresen und schaute auf einen kleinen Bildschirm. »Ihre Kollegen sind da«, erklärte sie und betätigte den elektrischen Türöffner.
Maike hörte durch die weit offen stehende Etagentür der Kanzlei Stimmengemurmel und schwere Schritte, die sich näherten. Kurz darauf traten die Kollegen Teubner, Reinders und Schmidtke ein.
»Haben Sie einen Schlüssel für die Bürotür?«, fragte Lina von Haunhorst die Sekretärin, nachdem sie einen schnellen Gruß an die Polizisten gerichtet hatte.
Sabine Brandt hob die Schultern. »Das weiß ich gar nicht genau. Ich werde es ausprobieren müssen.« Sie hob fragend den Blick, als wolle sie nichts falsch machen.
»Tun Sie das. Aber bitte beeilen Sie sich. Gibt es vom Büro her eine Fluchtmöglichkeit? Eine weitere Tür? Oder Fenster?«
Sabine Brandt klimperte mit dem Schlüsselbund und startete bereits den ersten Versuch. Ihre Finger zitterten leicht. »Ja, eine Tür führt auf einen rückwärtigen Balkon.« Beim fünften Versuch hatte sie endlich Glück. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Sie wollte die Tür aufschieben, wurde von der Staatsanwältin zurückgehalten.
»Das überlassen Sie mal den Kollegen. Treten Sie bitte beiseite.« Lina von Haunhorst nickte Teubner zu, während die Sekretärin sich hinter ihrem Tresen verschanzte und damit begann, nervös an ihren Fingernägeln zu kauen.
Teubner zog seine Dienstwaffe aus dem Holster, dann klopfte er laut an die Tür. »Ich komme jetzt zu Ihnen ins Büro, Herr Sobek. Seien Sie vernünftig und nehmen Sie die Hände hoch. Haben Sie verstanden?«
Aus dem Büro war kein Laut zu hören. Teubner öffnete die Tür. Maike sah das Zimmer im Dunklen liegen. Sämtliche Jalousien mussten heruntergelassen sein. Teubner betätigte den Lichtschalter. Dann ging er langsam zwei Schritte vor, da rechts an der Wand neben dem Eingang ein Schrank stand, der ihm die Sicht versperrte.
»Scheiße«, schrie er plötzlich. Er steckte die Waffe zurück ins Holster und verschwand aus dem Blickfeld von Maike. »Wir haben hier einen Tatort«, rief er dann. »Jemand muss sich um den Jungen kümmern. Er liegt vom Eingang links auf einer Chaiselongue.«
Sören Reinders und Maike betraten das Büro, hielten sich dabei an der Wand, um möglichst wenige Spuren zu zerstören. Was Maike dann sah, raubte ihr für einen Moment den Atem. Teubner beugte sich gerade seitlich über den Schreibtisch am anderen Ende des Raums, hinter dem Thomas Sobek auf seinem Schreibtischstuhl saß. Sein Oberkörper lag auf der Tischplatte, Blut breitete sich darunter aus. Eine weiße Schreibtischunterlage, die als großes Notizblatt genutzt werden konnte, hatte sich rot verfärbt. Teubner zog Handschuhe an und tastete am Hals nach dem Puls, dann drehte er vorsichtig den Kopf Sobeks und man erkannte deutlich ein Einschussloch an der Stirn.
Lina von Haunhorst, die nur zwei Schritte in den Raum getreten war, um sich ein Bild zu machen, wies sofort Polizeihauptkommissar Schmidtke an, einen Rettungswagen und die Kriminalhauptstelle in Dortmund zu informieren. »Der Kollege Hübner leitet die Ermittlungskommission um den verschwundenen Torben, da ein offensichtlicher Zusammenhang besteht, ist er auch für den Mord an dessen Vater zuständig. Hoffentlich kann ich Hübner erreichen.« Sie wandte sich von der Bürotür ab und ging auf Sabine Brandt zu, die fragend über ihren Tresen blickte. »Es tut mir sehr leid. Ihr Chef wurde erschossen. Sie sollten sich noch eine Weile zur Verfügung halten. Außerdem benötigen wir gleich eine Speichelprobe von Ihnen und Ihre Fingerabdrücke als Vergleichsmaterial. Ist das möglich?«
Maike hörte die Antwort der Sekretärin nicht mehr. Ihr Blick war auf die Chaiselongue gerichtet, auf der ein Junge lag. Man hatte ihm die Augen verbunden und die Hände mit einem Seil gefesselt. Reinders kniete neben ihm und tastete nach seinem Puls. Maike ging neben Reinders in die Hocke.
»Und?«, fragte sie kaum hörbar.
»Er ist ohne Bewusstsein«, erklärte ihr Kollege. »Und sein Puls ist schwach. Wir sollten ihn in die stabile Seitenlage bringen.«
»Der Notarzt ist unterwegs«, sagte sie knapp und half Reinders, den Jungen auf die Seite zu drehen, danach begann sie sofort, ihm die Fesseln zu lösen und die Binde von seinen Augen zu entfernen. Es handelte sich eindeutig um Torben Sobek. Sie schaute sicherheitshalber noch mal auf das Foto, das Polizeihauptkommissar Schmidtke gestern an sie weitergeleitet hatte. Dunkelbraune kurze Haare mit fransigem Pony, braune Augen, schmales und blasses Gesicht, dazu eine fast zerbrechliche Figur. Es gab keinen Zweifel. Was hatte der kleine Kerl seit gestern Abend nur erleben müssen? Hatte er seinen Vater tatsächlich auf dem italienischen Fest getroffen und ihn in die Kanzlei begleitet? Was war danach geschehen? Und wer hatte Thomas Sobek erschossen?
Das laute Geheul eines Martinshorns näherte sich. Kurz darauf drängte der Notarzt mit zwei Sanitätern in Sobeks Büro. Maike zog sich ins Foyer zurück, wo Staatsanwältin von Haunhorst mit den Kollegen wartete. Bange Minuten verstrichen. Was war mit dem Jungen? Wieso war er bewusstlos? Hatte er mit ansehen müssen, wie sein Vater erschossen wurde? Mit was für einem grausamen Täter hatten sie es hier zu tun? Maike zog in Erwägung, Alessia Sobek zu informieren. Allerdings erschien es ihr dann doch sinnvoller, zu warten, bis man Genaueres über den Zustand ihres Sohnes wusste. Endlich tat sich etwas im benachbarten Büro. Maike sah, dass Torben auf eine Trage gelegt und festgeschnallt wurde. Ein Infusionsbeutel baumelte über ihm. Er war immer noch bewusstlos. Die Sanitäter brachten ihn heraus, um ihn zum Notarztwagen zu bringen. Der Arzt trat auf Maike zu. Er hielt eine Spritze in seiner behandschuhten Hand.
»Die lag unter dem Rücken des Jungen. Ich vermute, sie wurde absichtlich dort deponiert, damit sofort klar ist, was dem Kind fehlt. Es handelt sich um ein gängiges Betäubungsmittel. Es ist also anzunehmen, dass Torben bald wieder aufwacht.« Er lächelte aufmunternd.
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