»Der Ordner betrifft Torben«, murmelte er und blätterte weiter. Scheinbar waren hier Abmachungen in einem persönlichen, inoffiziellen Vertrag abgeheftet. Vertragspartner war ein Heiner Straube. Was es mit diesem Vertrag auf sich hatte, konnte Teubner nicht auf einen Blick ausmachen. Ganz unten im Ordner befand sich eine Klarsichthülle mit einer Urkunde. Teubner zog sie heraus.
»Eine Geburtsurkunde«, murmelte er und las. »Torbens Geburtsurkunde«, rief er überrascht und fragte sich, warum die sich nicht im Familienstammbuch der Sobeks befand. Als sein Blick den Namen der Eltern traf, schob er erregt seinen Stuhl zurück und sprang auf. »Das gibt es doch nicht.« Er stürmte aus dem Raum direkt auf Hübner zu, der gerade ein Telefonat beendete.
»Torben ist nicht das leibliche Kind der Sobeks!«, begann er und hatte sofort die Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten. »Seine leibliche Mutter heißt Jessika Waas. Als Vater ist ein Jens Müller eingetragen.«
Hübner nahm ihm das Dokument aus der Hand und überflog es. »Seltsam, dass Alessia Sobek hiervon nichts erwähnt hat. Geht aus den Akten hervor, ob eine legale Adoption stattgefunden hat?«
Teubner schüttelte den Kopf. »Nein. Das sieht eher nach einer internen Kungelei aus. So wie ich die Aufzeichnungen deute, hat ein Heiner Straube das Baby der Jessika Waas an die Sobeks vermittelt.«
Hübner nickte und rieb sich nachdenklich den konturierten Bart. »Dann sollten wir schnellstens herausfinden, wer dieser Straube ist und was er macht. Immerhin ist es möglich, dass er oder die leibliche Mutter hinter dem Mord an Sobek stecken. Vielleicht wollten sie den Jungen zurückhaben. Andersherum stellt sich natürlich die Frage, warum sie Torben dann hier zurückgelassen haben. Kollegin Graf soll darüber mit Alessia Sobek reden. Wenn wir Glück haben, ist sie noch in der Kinderklinik Dortmund und wir wissen gleich mehr. Ich werde sie sofort instruieren.« Er griff nach seinem Smartphone, und Teubner staunte, wie schnell er die Nummer von Maike parat hatte. So ganz gleichgültig schien dem Ermittlungsleiter seine Ex-Freundin wohl nicht zu sein.
8. Kapitel
Maike hatte während der gesamten Fahrt von Unna im Notarztwagen nach Dortmund die Hand von Torben gehalten und ihm dabei sanft mit dem Daumen über den Handrücken gestreichelt. Sein blasses Gesicht wirkte zerbrechlich wie hauchdünnes Porzellan. Seine Atmung verlief gleichmäßig, allerdings sei die Sauerstoffsättigung im Blut unzureichend, erklärte der Notarzt. Man wollte ihn zur Vorsicht auf die Intensivstation bringen. Dort lag Torben nun an mehrere Schläuche und Kabel angeschlossen und im Beisein seiner Mutter, die nicht lange nach ihm eingetroffen war. Über die anhaltende Bewusstlosigkeit machten sich die Ärzte Sorgen, ansonsten sei sein Gesundheitszustand stabil.
Als der Anruf von Jochen Hübner einging, drückte Maike das Gespräch schnell weg und verabschiedete sich leise. Dann eilte sie durch die verwinkelten Gänge des Gebäudes, bis sie endlich den Ausgang bei der Kinderchirurgie fand und befreit aufatmend ins Freie trat. Krankenhäuser waren ihr immer ein Gräuel gewesen. Die Kinderklinik südlich der Innenstadt war Teil der Klinikum-Dortmund-GmbH, das als das größte Krankenhaus Nordrhein-Westfalens galt.
Maike wählte die Rückruffunktion und blickte auf die rötliche Backsteinfassade der mehrstöckigen Kinderklinik, während sie wartete, dass Jochen das Gespräch annahm. An der Beurhausstraße näherte sich mit eingeschaltetem Martinshorn ein Rettungswagen, der das Klinikum auf der gegenüberliegenden Straßenseite ansteuerte. Er bog ein Stück weiter von der Straße ab, erst da konnte die Hauptkommissarin ihren Gesprächspartner verstehen.
»Hallo, Maike«, grüßte Hübner kurz. »Es haben sich Hinweise ergeben, dass die Sobeks nicht Torbens leibliche Eltern sind. Wenn es möglich ist, sprich Alessia Sobek darauf an.« Hübner brachte Maike mit knappen Worten auf den aktuellen Ermittlungsstand. »Die Staatsanwältin hat eine erste Dienstbesprechung heute um 18 Uhr im KK 11 anberaumt. Kommst du von der Kinderklinik ins Präsidium oder soll ich dich abholen lassen?«
Maike blickte auf die U-Bahnstation direkt vor ihrer Nase. »Macht euch keine Mühe, ich werde pünktlich sein.« Sie verabschiedete sich von Jochen, dabei fiel ihr Blick auf die mehrgeschossigen Gründerzeithäuser in einer Seitenstraße, wo sich im Erdgeschoss neben einem Getränkeshop auch eine Grillstube befand. Seit dem Frühstück um 9 Uhr hatte sie nichts mehr gegessen und nun zeigte ihr Smartphone bereits 16.15 Uhr an. Eine Viertelstunde später betrat Maike die Kinderklinik mit zwei Pizzakartons sowie zwei Bechern Coffee to go und steuerte erneut die Intensivstation an, wo sie eine Schwester bat, Alessia Sobek hinauszubitten. Kurz darauf gesellte sich die brünette Italienerin zu ihr und sie betraten gemeinsam den Aufenthaltsraum, wo sie sich an einen Zweiertisch setzten.
»Gibt es schon Neuigkeiten über den Gesundheitszustand Ihres Sohnes?«, begann Maike.
»Nein. Er ist immer noch bewusstlos. Vermutlich wurde ihm eine Überdosis des Betäubungsmittels gespritzt.« Sie hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, und ihre Stimme klang weinerlich, als sie weitersprach. »Torben ist so zart.« Sie rieb sich die Augen. »Ich bete jede Sekunde, dass er das Verbrechen an seinem Vater nicht bewusst miterleben musste.«
Maike nickte. Sie nippte an ihrem Kaffee und griff nach einem Stück Pizza. »Frau Sobek«, begann sie, »meine Kollegen haben eine Geburtsurkunde von Torben gefunden, die eine Jessika Waas und einen Jens Müller als leibliche Eltern Ihres Sohnes ausweist. Warum haben Sie uns das verschwiegen?«
Die Italienerin verschränkte die Arme vor der Brust, ihr Gesichtsausdruck wirkte verbissen. »Das ist unmöglich!«, sagte sie knapp.
»Unmöglich, weil Sie Torben selbst zur Welt gebracht haben, oder unmöglich, da diese Urkunde nicht existieren darf?«, fragte Maike.
Alessia Sobek griff nach ihrem Kaffee und trank den Becher halb leer. »Ihre Kollegen müssen sich irren. Torben ist mein Sohn!«
Maike zog ihr Smartphone aus der Hose. »Ich werde ein Foto der Urkunde anfordern.« Sie schickte eine Kurznachricht an Teubner, kurz darauf konnte sie Alessia Sobek das Dokument zeigen.
»Dieser Idiot«, murmelte sie. »Ich dachte, Thomas hätte alle Unterlagen vernichtet. Wir besitzen eine legitime Geburtsurkunde vom Standesamt, die Thomas und mich als leibliche Eltern ausweist.«
»Die Sie aber nicht sind?«, hakte Maike nach.
Torbens Mutter seufzte und ließ die Hand, mit der sie gerade nach einem Stück Pizza greifen wollte, sinken. »Nein. Nach zwei Totgeburten haben mir die Ärzte empfohlen, auf eigene Kinder zu verzichten. Das Risiko sei zu groß. Wir wollten damals ein Baby adoptieren. Ganz legal. Allerdings sind die Hürden, die das Jugendamt setzt, sehr hoch.« Sie griff nun doch nach der Pizza, nahm einen winzigen Biss, spülte mit einem Schluck Kaffee nach und warf dann schwungvoll ihre langen Haare auf den Rücken. »Man musste immer wieder Fragen beantworten und warten. Das zog sich bei uns schon fast ein Jahr hin. Ich glaube, eine Schwierigkeit war, dass ich gebürtige Italienerin bin, obwohl ich doch einen deutschen Pass habe. Man hat das nie so direkt gesagt, aber … na ja … Dann ging es um die Wohnverhältnisse, die Berufstätigkeit, die psychologische Eignung, Gesundheit und was weiß ich nicht noch alles. Und plötzlich ergab sich die Sache mit Torben.« Sie lächelte, lehnte sich zurück und biss erneut zaghaft von der Pizza ab.
»Die Sache mit Torben müssen Sie mir genauer erklären«, forderte Maike.
»Dazu kann ich leider nicht viel sagen«, erwiderte Alessia Sobek. »Ich war damals mit den Nerven ziemlich am Ende. Schon schlimm genug, dass ich keine Kinder gebären sollte, da machte mir das Jugendamt noch das Leben schwer. Und plötzlich kam Thomas mit einem Baby nach Hause. Ich sah das kleine Würmchen mit den damals noch blauen Augen und war sofort verliebt.« Sie lächelte versonnen. »Als ich ihn auf dem Arm hielt, spürte ich ein Glücksgefühl, als sei ich tatsächlich Mutter geworden. Für kein Geld der Welt hätte ich das Baby wieder hergeben wollen.«
Читать дальше