Trotz ihrer Überforderung hielt sich ein hartnäckiger Stolz in ihr. Sie glaubte noch immer, sich durch perfektes Verhalten und gute Leistungen von anderen Menschen abheben zu können. Wahrscheinlich versuchte sie dies auch krampfhaft zu glauben, denn Perfektion war für sie der einzige Weg zum Erlangen von Wert und Bedeutung.
1991 musste Sophie umziehen. Die frühere Wohnung war für sie als Einzelperson einfach zu teuer. Über eine andere Verwandte ihrer Mutter fand sie eine günstigere Mietwohnung in Ostermundigen. Natürlich gehörte die Verwandte, welche im selben Haus wohnte, auch zu Sophies Gemeinde. Sie nahm Sophie unter ihre Fittiche und sagte, wie sie sich zu verhalten hatte. Das alte Spiel wiederholte sich also einmal mehr. Diese Frau brachte Sophie bei, wie sie ihre Haushaltung selbst führen konnte. Doch sie pochte vehement darauf, dass Sophie sich genau an ihre Anweisungen hielt.
An dieser Stelle muss natürlich erwähnt sein, dass die hilflose und unsichere Sophie Menschen richtiggehend anzog, die über ihr Leben bestimmen wollten. Und sie hatte sich nie dagegen gewehrt.
Es folgten Jahre, in welchen Sophie verschiedene Stellen als Buchhändlerin innehatte. Irgendwann kam sie in eine christliche Buchhandlung. Trotz ihrer Berufserfahrung schaffte sie es nicht, die Anforderungen dieses Buchladens zu erfüllen. Sophie hatte schlicht zu wenig Kenntnisse über den spezifisch christlichen Buchmarkt. Worauf sie aber ganz sensibel reagierte, war erneut die Botschaft: «Wenn du es genauso machst, wie wir sagen, bist du geliebt und angenommen – falls du versagst, bist du raus!» Eine solche Botschaft war mit Sicherheit nicht die Absicht der dortigen Leitung, für die übersensiblen Ohren von Sophie war die Botschaft aber einmal mehr klar: «Sei perfekt und Gott liebt dich.»
Sie schaffte es nicht. Glücklicherweise fand sie kurz darauf eine neue Anstellung im Blaukreuz-Verlag.
Durch die Arbeit im Blaukreuz-Verlag traf Sophie auf bekennende Christen, welche eine grosse Faszination auf sie ausübten. Es waren Menschen, die ihren Glauben auf eine lebendige und anziehende Weise lebten. Sophie liebte die Gemeinschaft mit diesen Leuten und war dankbar, an deren Leben teilhaben zu dürfen.
1995 verlor Sophie ihre Stelle im Blaukreuz-Verlag. Dies war die Folge einer längeren finanziellen Krise des Verlages. Die nächste Stelle trieb sie dann an die Grenzen ihrer Kräfte, was 1998 in einer schwerwiegenden Erschöpfungsdepression endete. Sophie hatte wirklich alles gegeben. Allein schon die 700 Überstunden, die sie geleistet hatte, sprechen eine deutliche Sprache. Doch der Einsatz war zu gross für sie. Und der ständige Drang, alles perfekt machen zu müssen, wurde ihr einmal mehr zum Verhängnis. Die Erschöpfungsdepression zwang sie schliesslich, ihre Stelle aufzugeben.
Inzwischen begann sich ihr Leben aber zum Guten zu verändern. Die Freunde vom Blaukreuz-Verlag blieben weiterhin an ihrer Seite. Sie luden Sophie zu sich nach Hause ein, wo sie viele gute Stunden verbrachten. Schon bald besuchte sie auch regelmässig die Anlässe der Gemeinde ihrer Freunde. Und dort hörte sie von einem liebenden Gott, der nicht an unserer Leistung und Perfektion interessiert ist, sondern vielmehr an unserem Herz. Der Gedanke, dass Gott sie, Sophie Blees, bedingungslos liebte, liess ihr warm ums Herz werden. Konnte das wirklich wahr sein? Sehnte sich Gott tatsächlich nach einer persönlichen Beziehung mit ihr?
Es war wunderbar, die Wahrheiten zu entdecken, die ihr bisher verborgen geblieben waren.
Die Veränderung vollzog sich langsam. Sophie erlebte keine grossen Durchbrüche und emotionalen Momente. Sie kann auch kein Datum nennen, an welchem sich etwas ganz Besonderes ereignet hat. Trotzdem weiss sie, dass sich etwas ereignet hat. Gott legte einen lebendigen Glauben in ihr Herz. Erst leise und unbemerkt, doch dann begannen sich Früchte zu zeigen. Freunde und Seelsorger halfen ihr, falsche religiöse Denkweisen abzulegen und zu einem lebendigen Glauben durchzudringen.
Nach Beendigung ihrer Anstellung im Blaukreuz-Verlag pflegte Sophie weiterhin regen Kontakt mit Doris und Gerold Huber. Mehrmals ging sie sogar mit ihnen in die Ferien.
Interessant war diese Freundschaft aber auch deswegen, weil ich damals ebenfalls regelmässig bei Hubers ein- und ausging. Aber Sophie und ich sind uns nie begegnet. Zumindest einige Jahre lang nicht. Während bei Sophie die frühere Arbeitsstelle den Kontaktpunkt zu Hubers herstellte, war es bei mir der Kontakt zum Blauen Kreuz – ein Kontakt, welcher für mich als ehemaligen Alkoholiker sehr wichtig war.
Im Jahr 2000 feierte Gerold Huber seinen 55. Geburtstag. Den ganzen Tag war das Haus geöffnet und die Gäste konnten kommen und sich in der reichhaltigen Festwirtschaft bedienen. Wie es ihrer Grosszügigkeit und Gastfreundschaft entsprach, hatten Hubers zu diesem Anlass sehr viele Leute eingeladen. An diesem Tag begegnete ich Sophie zum ersten Mal.
Sie hatte dieses wunderbare herzliche Lachen, welches ihr Umfeld sofort ansteckte. Mich hatte ihr Lachen jedenfalls sofort in den Bann gezogen und ich liess nichts unversucht, um sie durch Witze und lustige Geschichten zum Lachen zu bringen. Erfolg hatte ich dabei immer wieder, schliesslich war ich ja auch schon früher in den Kneipen ein Meister der Unterhaltung gewesen.
Wie ich später erfuhr, war meine anfängliche Wirkung auf Sophie etwas weniger überwältigend. Ihr Gedanke zu meiner Person war nämlich: «Dieser Mensch spricht aber langsam.» Noch heute kann Sophie sich daran erinnern, wie sie sich hin und wieder gefragt hatte, ob ich meine Sätze überhaupt jemals zu Ende bringen würde.
Von meiner Seite hätte ich Sophie gerne etwas näher kennengelernt. Sie hatte wirklich mein Herz erwärmt. Zu mehr als etwas Smalltalk brachten wir es allerdings nicht. Für Sophie war ich damals lediglich ein Typ, der an einer Geburtstagsparty viel und vor allem langsam sprach.
Kurze Zeit später fragte mich Gerold Huber, ob ich interessiert sei, mit ihnen einen Hauskreis zu beginnen.
«Ja, da bin ich interessiert. Wie würde das denn konkret aussehen?», antwortete ich und Gerold schilderte mir kurz, wie er sich die Sache vorstellte. Als er erwähnte, dass Sophie ebenfalls dabei sein würde, war mein Interesse zusätzlich geweckt. Sehr sogar!
So starteten wir diesen Hauskreis unter der Leitung von Doris und Gerold. Die Anzahl Teilnehmer variierte immer etwas, wir blieben aber stets eine kleine Gruppe. Somit hatte ich die Gelegenheit, mehr von Sophie zu erfahren und sie kennenzulernen.
Die Zeit nahte, wo Gerold und Doris nach Madeira in die Ferien verreisen wollten. Sophie war damals psychisch instabil und Hubers machten sich offensichtlich Sorgen um ihr Wohlergehen. Wie würde es Sophie ergehen, wenn sie im Ausland waren? «Irgendjemand muss nach Sophie sehen», müssen sie sich gesagt haben. So kam Gerold eines Tages mit diesem Anliegen auf mich zu.
«Jakob, wie du weisst, gehe ich mit Doris in die Ferien», begann er.
«Ja, das ist schön», erwiderte ich und wünschte ihm eine gesegnete Zeit.
«Nun ist da aber noch die Situation mit Sophie. Doris und ich machen uns Gedanken, wie es ihr während unserer Abwesenheit ergehen wird.»
Ich nickte und fragte mich, worauf Gerold hinauswollte.
«Wir haben uns jetzt überlegt, ob es für dich vielleicht möglich wäre, zwischendurch mal bei Sophie anzurufen und nach ihrem Ergehen zu fragen. Könntest du das tun?»
«Ja, das kann ich gerne machen!», sagte ich, während mein Herz einen grossen Freudensprung machte.
Die praktische Umsetzung dieser Bitte war dann nicht etwa nur ein gelegentlicher Anruf bei Sophie. Ich begann, ihr Briefe zu schreiben. Und zwar viele. Es gab Tage, an denen sie gleich mehrere Umschläge von mir aus ihrem Briefkasten nahm. Und sie schrieb zurück – wenn auch deutlich weniger oft als ich. Zwischendurch telefonierten wir. Aber das Briefeschreiben war in diesen Wochen doch meine Freizeitbeschäftigung Nummer eins.
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