Schnell sah ich mich von Medienterminen und persönlichen Gesprächen in Beschlag genommen. Noch immer befand ich mich in einem sonderbaren Zustand – es war mir nicht möglich, all das Geschehene richtig zu verarbeiten. Kaum war ein Interview mit einer Zeitung vorbei, stand auch schon das nächste an.
Mehrere Wochen nach Veröffentlichung wurde ich aber doch noch einmal überrascht. Mein Handy klingelte.
«Wampfler», meldete ich mich zu Wort.
«Guten Tag, Herr Wampfler», tönte es mir entgegen. «Mein Name ist Patrick Rohr vom Schweizer Fernsehen.»
«Hoppla», dachte ich bei mir selbst. «Was will denn der ‹Rohr› von mir?» Seine Sendung ‹Quer› hatte ich schon oft und gerne gesehen. Nach kurzen einführenden Worten kam er auf den Punkt.
«Herr Wampfler, wären Sie bereit in meiner Sendung als Querkopf aufzutreten?»
«Ja, das mache ich gerne. Für mich ist das eine grosse Ehre», erwiderte ich ohne langes Nachdenken. Und schon stand ein weiterer Termin fest – und sogar ein grösserer Auftritt beim Schweizer Fernsehen. Der kurze Beitrag, der bereits für «Schweiz aktuell» gedreht worden war, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgestrahlt worden.
Eine kleine Sache musste Patrick Rohr dann aber doch noch loswerden.
«In unserer Sendung wurde noch nie jemand als Querkopf eingeladen, der eine so geringe Bekanntheit hat wie Sie», führte er aus. Und ja: darüber hatte ich mich auch schon gewundert. Das «Problem» sollte dann einfach so gelöst werden, dass vorgängig eine kurze Reportage über mein Leben gedreht werden sollte. Auf diese Weise konnte ich den Zuschauern kurz vorgestellt werden. Ich war gerne bereit, einem Filmteam Einblick in mein Leben zu gewähren.
Einige Zeit später kam ein dreiköpfiges Filmteam zu mir nach Bern. Jemand führte die Interviews, während die anderen zwei die Kameras bedienten. Sie stellten mir viele Fragen über meine Vergangenheit. Um dem Zuschauer einen Einblick in mein früheres Leben als Alkoholiker geben zu können, suchten wir die Plätze auf, wo ich damals verkehrt hatte. Dort wurde ich wiederholt von unterschiedlichen Menschen erkannt, die sofort grüssend auf mich zukamen. Es ergaben sich einige ungestellte Szenen, welche das Filmteam festhalten konnte.
Einige Szenen wurden aber auch bewusst inszeniert. Beim Besuch der stadtbekannten Kneipe «Traube» musste ich mich an den Stammtisch setzen und meinen früheren Saufkumpanen mit einem Glas Cola zuprosten. Gleichzeitig beantwortete ich Fragen des Reporters.
Wir machten auch einen kleinen Abstecher zum Stauffacher, der Buchhandlung der Stadt Bern. Eine Verkäuferin hatte «Vom Wirtshaus ins Bundeshaus» gelesen und war hell begeistert. Daraufhin versuchte sie, das Buch bestmöglich zu bewerben. Was wir dann im Geschäft antrafen, war auch für mich eine Überraschung. Mein Buch wurde gross angepriesen. In vielen hohen Stapeln wurde es dem Käufer präsentiert und sogar in der aktuellen Stauffacher-Bestsellerliste war es aufgeführt. Auf Rang 8.
So stand ich also in diesem Buchgeschäft, sah mich auf der Bestsellerliste, während mein Buch intensiv beworben wurde. Begleitet war ich von einem Filmteam, welches davon überzeugt war, dass meine Geschichte sogar für den Zuschauer im Schweizer Fernsehen interessant war. Ganz ehrlich: Ich hatte zum damaligen Zeitpunkt keine Ahnung, was mit mir geschah. Mit solchen Dingen hatte ich nicht gerechnet. Wahrscheinlich hatte dies niemand.
Irgendwie ergab es sich dann so, dass mein Kurzporträt in «Schweiz aktuell» und mein Auftritt in der Sendung «Quer» am selben Abend ausgestrahlt werden sollten. Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, wie es dazu kam.
An diesem Abend war ich sehr aufgeregt. Live im Fernsehen aufzutreten war für mich schon eine ganz grosse Sache. Vorbereitend wurde ich geschminkt und sorgsam auf die Sendung vorbereitet.
Bruder Klaus Wampfler
Die Show selbst war ziemlich schrill. Zumindest in meinen Augen – den Augen eines Diemtigtalers. Die damalige Miss Schweiz wurde in eine Flüssigkeit eingelegt, wo sie während der ganzen Sendung bleiben musste. Erst am Ende wurde sie herausgehoben. Das war irgendeine Veranschaulichung zum Thema des Abends: «Fröhliche Wissenschaft».
Es gab sehr viele Eindrücke, die auf mich einprasselten. Das Schönste war, als ich Jesus Christus als denjenigen bezeugen konnte, der mich freigemacht hatte. Aber auch die Anwesenheit von mir nahestehenden Personen im Studiopublikum bedeutete mir sehr viel. Dass sogar mein Bruder Klaus, der unter meinem Suchtverhalten jahrelang leiden musste, nach Leutschenbach (Zürich) gefahren war, berührte mich sehr. Er hatte den Weg auf sich genommen, um meinen Auftritt live mitzuerleben.
Als wir nach der Sendung in den Räumlichkeiten des Schweizer Fernsehens noch beim Essen zusammensassen, konnte ich mich endlich entspannen. Die vergangenen Wochen waren derart hektisch gewesen, dass ich kaum Zeit und Gelegenheit gefunden hatte, innerlich zur Ruhe zu kommen und das Ganze zu verdauen.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass der ganze Rummel um mein Buch und auch um meine Person nach dem Abend im Schweizer Fernsehen noch einmal stark zunehmen würde. Bevor ich aber weiter von diesen Erlebnissen berichte, möchte ich erst den Menschen vorstellen, der mir in all diesen Erlebnissen am nächsten stand.
1Offenbarung 3,16
2Schweizerdeutsches Wort für mogeln oder schwindeln
3Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment
Am 18. Mai 1951 wurde Sophie Blees geboren. Die Geburt war zu früh und das kleine Mädchen wog gerade 1‘200 Gramm. Deshalb wurde sie in eine Isolette gelegt und behutsam gehegt und gepflegt. Dass sie heute lebt, ist alles andere als selbstverständlich, ihr Start ins Leben war jedenfalls eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod.
Sophies Mutter stammte aus dem ländlichen Trubschachen im Emmental, wo sie in einer grossen Familie aufwuchs. Sophie hatte zwar keine Geschwister – ihr älterer Bruder starb kurz nach der Geburt – dafür aber zahlreiche Cousinen und Cousins. Die Grossfamilie war so etwas wie eine Dynastie in einer strengen christlichen Gemeinde. Dort wurde ein klarer Verhaltenskodex gelehrt, den einzuhalten wichtig war, um ein anerkannter Teil der Gemeinschaft zu sein.
Als kleine Familie lebten sie an verschiedenen Orten am Thunersee. Eine sehr schöne Gegend. Sonntags legten sie den mehr als einstündigen Weg zu ihrer Gemeinde zurück, einer Gemeinde, die sich anderen Kirchen überlegen fühlte. Sie glaubten fest, dass sie im Besitz der Wahrheit waren. Jede abweichende Meinung wurde als Irrtum abgetan. Es war unvorstellbar, diese Gemeinde zu verlassen und sich einer anderen Gemeinschaft anzuschliessen. Dazu kam, dass aus Mutters Verwandtschaft viele prägende Leiter der Gemeinde hervorgegangen waren.
Was Sophie in dieser Gemeinde sehr prägte, war der starke Druck, sich den Vorgaben anzupassen. Obwohl es nie so ausgesprochen wurde, stand doch klar im Raum: «Verhalte dich so, wie wir sagen, und du gehörst zu uns.» Regelverstösse, egal wie belanglos diese auch sein mochten, hatten unmittelbar einen grossen Verlust an Gunst zur Folge. Für Sophie war ganz klar: «Wenn ich mich korrekt verhalte, bin ich von Gott geliebt – falls ich Fehler mache, stösst er mich weg.» Und diese Fehler bestanden primär darin, den Vorgaben anderer Leute nicht tadellos nachzukommen.
Die Familie ihres Vaters war Sophie völlig unbekannt. Ihr wurde gesagt, seine Eltern seien während des Zweiten Weltkriegs umgekommen. Irgendwann erfuhr Sophie, dass ihr Vater ein uneheliches Kind war und bei einer Pflegefamilie in Basel aufwuchs. Diese wenigen Informationen waren eigentlich schon alles, was sie über die Herkunftsfamilie ihres Vaters wusste. Einen Verwandten väterlicherseits hatte sie nie kennengelernt.
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