In diesem Moment hatte ich keine Erwiderung bereit. Es ist traurig, wenn man sich als Christ ausgibt, jedoch ein mieses Doppelleben führt. Und genau ein solcher Mensch war ich – das wusste ich in diesem Augenblick ganz genau.
Dann änderte sich Kollers Stimme, während er mir eine Karte über den Tisch schob.
«Hier ist meine Karte», sagte er, und sah mich freundlich an. «Auf dieser Karte finden Sie meine Natelnummer. Sollten Sie jemals den Drang verspüren, irgendetwas zu konsumieren, dann rufen Sie mich an! Ich bin 24 Stunden am Tag für Sie da!»
Dankbar nahm ich die Karte entgegen.
«Das ist Ihre letzte Chance, Herr Wampfler», hielt Herr Koller noch einmal fest. «Es liegt jetzt an Ihnen, eine ernsthafte Entscheidung zu treffen. Ich frage mich nur: Sind Sie zu 100-prozentiger Abstinenz bereit? Nehmen Sie heute Nachmittag frei und überlegen Sie sich, wie Sie sich Ihr weiteres Leben vorstellen. Ich erwarte Ihre Antwort morgen.»
Es folgte ein kurzer Moment des Schweigens.
«Das ist Ihre letzte Chance. Nehmen Sie diese Chance wahr! Ich werde für Sie beten!»
«Ja, das werde ich!», erwiderte ich, bevor ich sein Büro verliess. Irgendwie war ich wach geworden. Endlich verstand ich die Ernsthaftigkeit meiner Lage.
Aufgerüttelt verliess ich das Bundeshaus. Die vergangenen sieben Jahre hatte ich ein Leben der Kompromisse geführt. Natürlich wollte ich frei sein von Alkohol und Drogen. Ich wollte auch ernsthaft ein Leben als Christ führen. Trotzdem bildete ich mir immer wieder ein, dass ein bisschen Alkohol oder ein einziger Joint schon nicht so schlimm sei. In der Folge führte diese Einstellung zu vielen Problemen.
Vor dem Bundeshaus wartete mein Freund Heinz Hügli auf mich.
«Jetzt ist nicht Zeit zum Diskutieren», wies er mich an. «Gehen wir spazieren!»
Wir schlenderten der Aare entlang. Es war der 19. August 1999. Ich traf den Entscheid, ganze Sache zu machen, und betete ernst – ja, verzweifelt.
In der Offenbarung lesen wir, wie Jesus sich an den Gemeindeleiter in Laodizea richtet und folgende Worte sagt: «Weil du lau bist und weder kalt noch heiss, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund.»1
Damals, im Jahr 1999, entsprach meine eigene Temperatur mit Sicherheit dem «lau», welches Jesus letztlich ausspeien wird. Er hasst dieses scheinbar Christliche, welches sich zwar zu ihm bekennt, letztlich aber voller Kompromisse und Halbheiten ist.
«Jesus Christus», betete ich. «Es tut mir leid, dass ich dich immer und immer wieder betrogen habe und eigene Wege gegangen bin. Vergib mir meinen Eigensinn und meinen Stolz! Bitte vergib mir meine Sünden, meine Kompromisse und mein Denken, alles besser zu wissen! Von heute an will ich dir gehorsam sein und meine Hände von allen Suchtmitteln lassen. Bitte hilf mir dabei!»
Und dann sagte ich den vielleicht wichtigsten Satz meines ganzen Lebens:
«Ich will aufhören zu ‹bescheissen›2!»
Das war der Tag, an dem sich Jesus über mich erbarmte. Es war der Tag, an dem ich von meinen Süchten befreit wurde. An diesem Tag verschwanden all mein Alkohol, alle Drogen und Tabletten aus meinem Leben. Und Jesus hat mich tatsächlich und nachhaltig frei gemacht. In der Folge wurde ich nicht müde zu bezeugen, was Jesus Christus an mir getan hatte.
Dieser Tag lag nun schon sechs Jahre zurück. Jetzt hatten wir 2005 und meine Geschichte war gerade dabei, in Form eines Buches einiges an Sand aufzuwirbeln. In all dieser Zeit war ich Herrn Koller immer dankbar geblieben, dass er mich nicht fallengelassen hatte. Für mich war es eine besondere Ehre, als sich Herr Koller sogar bereit erklärte, das Vorwort in «Vom Wirtshaus ins Bundeshaus» zu schreiben.
Wahrscheinlich war ihm meine Dankbarkeit sehr wohl bewusst. Auf jeden Fall blieb er jetzt als Unterstützer an meiner Seite. Gerade in dieser hektischen Zeit der Buchveröffentlichung war ich äusserst froh, jemanden an meiner Seite zu haben, der mich am Arbeitsplatz etwas abschirmte und Grenzen setzte.
Herr Koller wurde zuweilen von Vertretern der Medien aufgesucht. Eine besonders brisante Frage wurde ihm sowohl vom Zürcher Tagesanzeiger wie auch vom «Fenster zum Sonntag» gestellt. «Herr Koller, weshalb haben Sie Herrn Wampfler immer wieder eine Chance gegeben, obwohl er Sie so oft enttäuschte?»
Die Antwort von Herrn Koller war erstaunlich. Er sagte: «Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Irgendwie musste ich einfach so handeln.»
Einmal sagte eine Journalistin zu Herrn Koller: «Jetzt haben Sie viele Jahre wie ein Vater ins Leben von Jakob Wampfler investiert. Ihr Aufwand hat sich nun ausbezahlt gemacht. Er ist stabil und hat sogar ein Buch veröffentlicht.» Die Worte sollten ein Lob an Herrn Koller sein. Aber dieser intervenierte sehr schnell.
«Nein, nein! Meine Aufgabe an Herrn Wampfler ist noch nicht vorbei. Noch immer bete ich jeden Tag für ihn. Und noch immer bin ich für ihn da.»
Diese Worte berührten mich sehr.
Eines Tages wurde ich unerwartet ins Büro des damaligen EJPD3-Generalsekretärs gerufen. Er hatte mein Buch gelesen und bat mich um eine Widmung.
«Und wie ist es eigentlich mit unserem Chef, Herrn Blocher?», fragte er. «Ist er schon im Besitz ihres Buches?»
«Keine Ahnung!»
«Das wollen wir doch gerade herausfinden», sagte er und griff zum Telefon. Während er wählte, hängte er noch an: «Vielleicht hat er ja gerade einen Moment Zeit für Sie?»
Tatsächlich wurde ich ins Büro von Bundesrat Blocher gerufen.
Ich war höchst überrascht, dass er sich für mich interessierte. Trotzdem hielt sich meine Freude in Grenzen. Herr Blocher hatte sich nämlich kurze Zeit zuvor darüber beschwert, wie Bundesangestellte ihrer Arbeit in Birkenstöcken nachgingen. «Das ist keine angemessene Bekleidung!», meinte er. Natürlich trug ich zu besagtem Zeitpunkt Birkenstöcke. Doch was sollte ich tun? Die Einladung ausschlagen war sicher keine gute Option.
Nach einer kurzen Begrüssung sagte Herr Blocher mit einem Augenzwinkern: «Jetzt will ich doch auch einmal ein paar Worte mit dem bekanntesten Mitarbeiter der Bundesverwaltung wechseln.»
Eigentlich hatte ich schon eine Bemerkung auf der Zunge, dass er bezüglich Bekanntheit wohl kaum etwas zu klagen hätte –, aber ich zwang mich, für einmal den Mund zu halten. War vielleicht besser so.
Herr Blocher lud mich ein, auf einem Polstersessel Platz zu nehmen. Er setzte sich zu mir und er sprach zwanzig Minuten mit mir über ganz verschiedene Themen. In seiner früheren Firma habe er sich auch oft um Mitarbeiter mit Alkoholproblemen gekümmert.
Schliesslich schien der Bundesrat das Gespräch langsam zum Abschluss bringen zu wollen.
«So, Herr Wampfler, sagen Sie mir jetzt nur noch: wie viel kostet Ihr Buch?»
«Es kostet 20 Franken, Herr Blocher», erwiderte ich.
«Dann nehme ich eines. Aber bitte mit Widmung. Schreiben Sie doch einfach ‹Für Silvia und Christoph Blocher ›.»
Auf einem echten Marmortisch schrieb ich die Widmung und überreichte das Buch ganz feierlich dem neuen Besitzer. Dieser öffnete seine Geldbörse und nahm einen grossen Geldschein hervor. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen: Herr Blocher streckte mir tatsächlich eine 1000er-Note entgegen.
«Hier ist etwas für Ihr Buch und jetzt wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag!»
Damit war der Besuch zu Ende und ich verliess das Büro mit einer Tausendernote in meiner Hand – und Birkenstöcken an meinen Füssen.
Doch nicht nur im Bundeshaus wurde ich oft auf «Vom Wirtshaus ins Bundeshaus» angesprochen. Es dauerte nicht lange, bis sich die Medien bei mir meldeten. Ich hatte einen grossen Aufwand betrieben, Zeitungen, Radiosender und Magazine anzuschreiben und Rezensionsexemplare zu verschicken. Diese Arbeit schien sich bezahlt zu machen. Zuerst meldete sich die BernerZeitung, kurz darauf der Bund, der Berner Oberländer, Radio 24 und zahlreiche andere. Das öffentliche Interesse an meiner Lebensgeschichte überraschte mich sehr.
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