Vor ihm stand eine schlanke und hochgewachsene dunkelhaarige Frau im schwarzen Kleid einer Karnola des Königs, an ihrem Gürtel das typische blitzende Rundwurfschwert. Diese äußerst gefährliche Waffe ließ sich im Nah- und Fernkampf einsetzen. Manche Mitglieder des Geheimbundes der Karno hatten sich sogar darauf verlegt, das Schwert so zu werfen, dass es nach Verrichtung der Dinge wieder zu ihnen zurückkehrte. Nur wer exzellent trainiert war, konnte so ein kreiselndes Objekt wagen zu fangen.
Oskar wurde leichenblass und duckte sich mit schreckensstarrem Gesicht hinter seine Theke. Auch Martin war mit einem Mal mulmig zumute. Seine Gedanken rasten. Karno-Angehörige waren fast immer weiblich, eiskalt und wurden vom König niemals ohne konkreten Auftrag oder Ziel entsandt. Um Oskar konnte es sich dabei nicht handeln, denn er hatte offensichtlich nicht gewusst, wer da die ganze Zeit über an seiner Bar das vermutlich selbstgebrannte Zeug aus seiner Flasche geleert hatte. Also hatte es etwas mit ihm zu tun …
„Kämpfer, wie ist dein Name?“, fragte die Karnola herrisch.
„Martin“, antwortete der Angesprochene mit so fester Stimme wie möglich.
„Der vollständige Name!“, fauchte sie mit blitzenden Augen. „Und dein Auftrag!“
„Martin Darian Kalder, verehrte Karnola“, erwiderte er. „Ich bin Träger einer Botschaft für Kraton den Edlen, unseren ehrenwerten König.“
Die Karnola schritt nun langsam um ihn herum. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich allmählich zu einem herablassenden Lächeln. „Wenigstens hast du nicht vergessen, was sich gehört“, sagte sie schließlich ein wenig versöhnlicher. „Nenne mir deine Botschaft.“
Von so viel Dreistigkeit war Martin nun aber doch überrascht. „Karnola, Ihr wisst, dass ein Herold mit einer Botschaft für den König diese ausschließlich ihm selbst mitteilen darf. Wenn ich Ihnen den Inhalt offenlegte, hätte ich mein Leben verwirkt.“
Die Karnola wirkte zufrieden. Nachdem sie noch ein paarmal hin und her geschritten war, hob sie erneut an zu reden: „In Ordnung, Herold. Du bringst vermutlich Kunde von der Eroberung zum Palast nach Urlich. Weshalb aber sind deine Kameraden nah, wie du zum Ausdruck brachtest, wo du doch ein Vorbote sein willst? Sprich!“
Nun musste Martin zugeben, dass es keine anderen Kämpfer in der Nähe gab. Natürlich wollte er ihr aber keinen reinen Wein über den Untergang der Flotte einschenken. So entgegnete er schließlich: „Sie sind noch gar nicht hier. Ich wurde tatsächlich allein losgeschickt, wollte dies aber in diesem Umfeld nicht offenlegen.“
„Klug gehandelt, Soldat“, sagte die Karnola nach kurzer Pause, während sie etwas entspannter durch den Raum schlenderte, so dass sich ihr Kleid im Licht der Kerzen wiegte. „Wäre ich ein Betrüger oder gar ein Bandenspion gewesen, hätte ich diese Information sonst leicht gegen dich verwenden können.“
Zögerlich erschien Oskar wieder hinter dem Tresen. Er war immer noch kalkweiß. „Mö… Möchtet Ihr vielleicht noch etwas …“, stotterte er, aber die Karnola beachtete ihn nicht und sprach stattdessen weiter zu Martin: „Wie ich sehe, zählt die Ehre des Königs bei seinen Boten aus der Armee noch etwas. Gut, so setze deinen Weg fort, wie es dir beliebt, Herold.“ Daraufhin griff sie ihren Mantel, schwang ihn sich erneut um den Körper und stolzierte durch die hölzerne Eingangstür davon. Zurück blieben ein überraschter urgalanischer Kämpe und ein schlotternder Wirt, der sich nun zunächst selbst einen Schluck aus der Flasche genehmigen musste.
„T… Tut mir leid, Martin – ich wusste nicht, wer das war, schon gar nicht, was sie war!“, stieß er hervor. „Sie hatte vorher die ganze Zeit kein Wort gesagt, immer nur mit den Händen gedeutet. Ich dachte, es sei ein stummer Veteran oder so.“
Martin rieb sich nachdenklich die Wange. „Schon gut, Oskar. Was mich an dieser Sache so wundert – sie war ganz offensichtlich nicht deinetwegen hier, hatte aber auch mit mir nicht gerechnet. Was zum Henker hat sie für einen Auftrag?“
Martin sann immer noch über die Begegnung in der Kneipe nach, als er auf der breiten, aber zu einem Großteil überwucherten Straße gen Südosten weiterzog. Er hatte nach einigen Stunden Marsch in Richtung seines Heimatlandes die Umgebung Kippstadts hinter sich gelassen und befand sich nun in einem ehemals fruchtbaren Gebiet Atalans. Hier war es wenigstens ruhig und man musste nicht ständig mit Überfällen rechnen. Die früher gut ausgebaute, mehrspurige Straße, auf der moderne, schnelle Fahrzeuge entlanggebraust waren, war nunmehr von Löchern durchzogen und an den Rändern mit Büschen bewachsen. Auch die Fahrbahndecke selbst zeigte mehr grünen Kräuterbewuchs als das Grauschwarz des früheren Asphaltbelags. Schrott und Wrackteile lagen herum und säumten die Ränder. Dahinter lagen ehemalige Obstplantagen, die nun verwilderten und Tieren oder Landstreichern Heim und Nahrung boten.
Martin schüttelte den Kopf. Was für eine Schande! Hier verrotteten möglicherweise in jedem Sommer Tonnen essbarer Früchte, während sich in der Stadt zig Meuten um die wenige vorhandene Nahrung prügelten. Aus Angst verließen sie die Stadt nur, wenn sie mussten – Angst davor, dass sie von anderen Banden aufgerieben wurden oder dass bei ihrer Rückkehr bereits eine andere Meute ihr Gebiet beanspruchte. Was war nur aus diesem Land geworden?
Natürlich hatte Oskar noch Vorräte unter einer losen Diele in seinem Hinterzimmer gehabt. Dieser Bursche wusste, wie man überlebte. Selbst die zwielichtigen Gestalten, die sich meist in seinen Räumlichkeiten herumtrieben, wussten einen Anlaufpunkt wie die Kneipe zu schätzen und waren bereit, auf welche Weise auch immer für das zu bezahlen, was man dort bekam.
Nach einem guten Mittagbrot hatte sich Martin also mit einer Tasche und ein wenig Proviant wieder in Richtung Urgalan aufgemacht. Dafür hatte er allerdings auch etwas hergeben müssen: einen Teil der Notausrüstung jedes Kämpfers, das Texpack, womit man Schäden an Kleidung oder auch Schuhen selbst reparieren konnte. Nur sein Sanpack war ihm noch geblieben, auch wenn das Pflastermaterial durch seinen unfreiwilligen Aufenthalt im Wasser des Meeres womöglich unbrauchbar geworden war. Obwohl er gut vorankam, dauerte Martin angesichts der sinkenden Sonne die Reise viel zu lange. An diesem Tag würde er Galdau nicht mehr erreichen und war vermutlich dazu gezwungen, die Nacht abseits der Straße in einem der alten Plantagengebiete zu verbringen. Nun, dies hatte auch Vorteile – zu dieser Zeit des Jahres gab es möglicherweise bereits verlassene Apfelbäume mit Früchten daran, so dass er ein Frühstück und weiteren tragbaren Proviant bekommen konnte.
Martin hielt einen Moment inne und fühlte in sich hinein. Ja, das Licht war noch dort. Die bedrückende, triste Umgebung schlug einem aufs Gemüt. Wer überall nur Zerstörung zu sehen bekam, konnte vergessen, wie reich er innerlich war. Er wollte nicht, dass so etwas passierte. Dazu war ihm das neu Gelernte viel zu wertvoll. Wie viel mehr stimmte es mit seinem inneren Empfinden überein als der Inhalt seines bisherigen Lebens …
Die Sonne versank hinter dem bewachsenen Seitenstreifen. Es begann, dunkler und kühler zu werden. Nicht eine Menschenseele war Martin seit dem Verlassen Kippstadts begegnet. Lediglich ein Luchs oder Marder lief von Zeit zu Zeit über die verwüstete Straße, oder ein Rabe kreiste darüber. Es war Zeit geworden, sich einen Schlafplatz zu suchen. Also bahnte sich Martin einen Durchgang durch das Gestrüpp am Straßenrand auf das dahinterliegende Feld. Dort wuchsen Disteln, Brennnesseln und andere Kräuter zusammen mit halbhohen Büschen zwischen der ehemaligen Plantagenbepflanzung, deren Anordnung in diesem Durcheinander nur noch mit einiger Fantasie zu erkennen war. Er erblickte Zwetschgenbäume, die jedoch ihre Kraft in die Ausbildung von Wassertrieben gesteckt hatten und nicht mehr trugen. Alte Kirschbäume mit längst verfaulten Früchten zeichneten sich gegen den dunkler werdenden Abendhimmel ab und verweigerten ihm die Hoffnung auf etwas Obst am nächsten Morgen. Martin seufzte. Zwerg müsste man sein, dann hätte man die Bäume um Unterstützung bitten können, wie ihm die beiden winzigen Frauen erzählt hatten. So aber musste er sich freuen, dass es nicht regnete und kaum windig war.
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