Wir leben in einer Welt, in der uns gesagt wird: »Schwul zu sein ist nur eine normale Variante der menschlichen Sexualität.« Im Gegensatz zu dem Bild, das uns über die Homosexualität vorgestellt wird, sehe ich eine klare Abfolge von Ereignissen in meinem Leben, die mich letzten Endes auf den Weg der gleichgeschlechtlichen Neigung geführt haben. Ich bin überzeugt, dass diese Art von Vorfällen, die das eigene Geschlecht infrage stellen, wie Hänseln, Schikanieren, Sich-schwächer-und-weniger-athletisch-Fühlen als andere Jungen zusammen mit vielen anderen Ereignissen in meinem Leben zu einer Brutstätte wurden, in der meine gleichgeschlechtliche Neigung wachsen und gedeihen konnte.
Eine Mutter, die ihrem Sohn willkürlich Zöpfe flicht, trägt nicht deshalb schon dazu bei, dass dieser Junge sich später mehr für Männer als für Frauen interessiert. Ein Junge, der beim Kickball den Anforderungen dieser Sportart nicht entspricht, wird nicht schon dadurch den Wunsch, Sex mit einem anderen Mann zu haben, verspüren. Natürlich waren dies nicht die einzigen Dinge, die sich ereigneten, als ich jung war. Da gab es noch etwas, was in der Scheune geschah.
Mein Vater war durch und durch ein Junge vom Land, obwohl wir in der Stadt lebten. Als Kind verbrachte er seine Sommerferien bei seinen Onkeln und Tanten auf der Halbinsel Stonington auf einer Landzunge, die in den Michigan See hineinragt und östlich von der kleinen Bucht von Bay de Noc liegt. Er hatte ihnen geholfen, das Land zu bebauen, Heu zu machen und Holz zu schlagen in den Wäldern, die der Familie gehörten. Die Landwirtschaft lag ihm im Blut. Deshalb baute er eine Scheune im Garten hinter dem Haus.
»Die Scheune von Mort« war Gegenstand des Geredes in der Nachbarschaft. Alle Kinder beobachteten mit Staunen, wie aus dem Betonmischer flüssiger Beton für das Fundament und den Fußboden entladen wurde. Eine Woche später diente der neu gegossene Fußboden der Scheune allen in der Nachbarschaft als Rollschuhbahn und auch als Zeichenfläche für eine intensive Kreidebemalung.
Langsam nahm das Gebäude Gestalt an. Die Väter aus der Nachbarschaft halfen beim Bau mit. »Wir sind dabei, unsere eigene Scheune zu bauen!« Sie erzählten einander Witze und machten Späße, während sie den Rohbau errichteten.
Wir Kinder folgten den Arbeiten. Mit jedem neuen Element erfanden wir ein neues Spiel. Wir schlängelten uns durch die 0,65 Meter mal 1,20 Meter großen Elemente des Gerüsts, als ob wir an einem Hindernisrennen teilnehmen würden.
Das Dach nahm Form an, der First wurde eingebracht und bald war alles fertig. Schließlich wurde die letzte Schindel eingepasst. Die Scheune war fertig und dann begann der Spaß.
Unsere Fantasie bekam Flügel. Mit der ausklappbaren Bodentreppe, die vom oberen Stock heruntergezogen werden konnte, spielten wir das Fliegen im Zeppelin im Zweiten Weltkrieg. Manchmal tauchten wir bei einem waghalsigen Einsatz für die Marine im Meer tief nach unten. Manchmal befanden wir uns an Bord des Raumschiffs Enterprise und katapultierten uns mit Warp-Geschwindigkeit 1durch den Weltraum.
»Ich gehe in die Scheune hinaus« war ein Satz, den wir oft zu unseren Eltern sagten.
Der vordere Teil der Scheune war unser Spielplatz, aber der hintere Teil wurde bald mit Antiquitäten, die meine Eltern sammelten, angefüllt. Niemand ging tatsächlich nach hinten, doch für einen sieben oder acht Jahre alten Jungen wurde der winzige Hohlraum zwischen der winkligen Dachschräge und den Balken, die sich am Ende des Raumes befanden, zu Tunneln, in denen er sich vorstellen konnte, große Abenteuer zu erleben. Sie waren zu schmal für jemanden mit ungefähr zwölf Jahren, aber für die kleineren Kinder in der Nachbarschaft wurde der »Tunnel« zu einem großartigen Platz zum Spielen oder um nicht gesehen zu werden.
Ich weiß nicht, wann es begann oder wie es begann, aber ein Nachbarsjunge und ich gingen oft in den Tunnel, zogen unsere Kleider aus und erforschten gegenseitig unsere Körper. Ich kann mich glücklicherweise nicht genau daran erinnern, was wir taten, aber ich erinnere mich daran, dass es lustig und aufregend war. Nichts machte mir so viel Spaß wie das, was wir gemeinsam taten. Wir taten es jahrelang. Wie es begann, ist vor meinem Auge verschwommen. Habe ich damit begonnen? Oder er? Ich nehme an, dass solche Fragen heute keine Rolle mehr spielen.
Einige Jahre später haben wir zu einem bestimmten Zeitpunkt damit aufgehört. Ich habe oft darüber nachgedacht, welche Auswirkungen dies auf unsere Psyche gehabt haben muss, die sich gerade entwickelte, und auf unser Selbstverständnis und unsere Sexualität. Ist es wirklich nur reiner Zufall, dass er als Erwachsener als schwuler Mann auftrat und dass auch ich mit einer tief sitzenden gleichgeschlechtlichen Neigung lebe? Ich glaube nicht.
Ich glaube, dass unsere Sexualität wie ein Fluss ist, der so angelegt ist, dass er einen bestimmten Weg fließen soll. Aber wenn solche Dinge, wie ich sie mit Joey tat, in unserem Leben geschehen, ist es, als ob ein Felsbrocken in den Bach stürzt und den Weg einer gesunden und normalen sexuellen Entwicklung in gewisser Weise blockiert. Manchmal kann das Wasser des Flusses über den Felsbrocken fließen und den Weg finden, den es normalerweise genommen hätte. Es gibt sicherlich Jungen, die mit anderen Jungen ebenso experimentiert haben, die jedoch ohne gleichgeschlechtliche Neigung erwachsen wurden.
In seinem Buch Liebe und Verantwortung schreibt Papst Johannes Paul II.:
»Die durch die Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter bestimmte Ausrichtung seines Wesens bleibt nicht nur im Innern des Menschen, sondern äußert sich auch und nimmt normalerweise (wir sprechen hier nicht von krankhaften Zuständen oder Fehlnormen) die Form einer gewissen natürlichen Strebung an, einer Hinneigung zum anderen Geschlecht.« 2
Ich bin jedoch überzeugt, dass solche Erfahrungen, die manche Männer und Frauen in der Jugendzeit machen, es mit sich bringen, dass ihre sexuelle Entwicklung in ihrem ursprünglichen Verlauf gestört wird. Wenn ich an diese Momente mit Joey zurückdenke, dann kommt mir ein Vers aus dem Hohelied der Liebe in den Sinn, der in diesem biblischen Buch mehrmals wiederkehrt:
»Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter:
Was stört ihr die Liebe auf, warum weckt ihr sie,
ehe ihr selbst es gefällt?« (Hld 8,4).
Dies ist ein Appell, die Unschuld einer Person zu achten und unanständige Redeweisen und Handlungen zu unterlassen, welche die sexuelle Begierde wecken würden außerhalb des Kontextes, für den die sexuelle Intimität geschaffen ist, nämlich die geheiligte Verbindung von Mann und Frau in der Ehe. Ich glaube, dass jene geheimen Treffen mit Joey meiner sexuellen Entwicklung schweren Schaden zugefügt haben, ebenfalls seiner Entwicklung. Wir haben zu früh und auf falschem Weg die Begierde geweckt. Indem wir uns so verhielten, legten wir gewissermaßen ein Hindernis in den Weg, welches uns vom »normalen Verlauf der Dinge« abhielt. In den Geschichten, die ich von anderen Männern und Frauen höre, die mit gleichgeschlechtlichen Neigungen leben, spielen frühe sexuelle Erfahrungen häufig eine große Rolle. Sie rühren oft von Missbrauch her. Es ist sicher nicht jedermanns Geschichte, aber es geschieht zu oft, um als Zufall gewertet zu werden. Gleichgeschlechtliche Neigungen kommen nicht nur einfach so, ganz von allein.
Als ich in der dritten Klasse war, schickte meine Familie meine Brüder und mich auf eine überkonfessionelle christliche Schule. Meine älteren Brüder hatten die öffentliche Schule besucht. Meine Eltern hatten jedoch genug von den dortigen schlechten Einflüssen auf die Erziehung, besonders im Sexualkunde-Unterricht.
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