Und jetzt? Wenn der Begriff »Ädscheil« auch nur genannt wurde, waren alle genervt und rollten die Augen nach oben … Nach der anfänglichen Begeisterung – auch im Team – war sich nun nicht einmal mehr Alexander sicher, ob »agil« wirklich sinnvoll war, und er erwischte sich immer häufiger dabei, aufgeben zu wollen. Das brachte doch nur Probleme und Ärger! Für seine Firma war das wohl nichts! Sie schafften das nicht! So dachte er in letzter Zeit oft. Er hatte doch alles umgesetzt! Er hatte alle Mitarbeiter zu einer Scrum-Schulung geschickt, die sich auf Nicht-ITler spezialisiert hatte. Trotzdem waren seine Leute eigentlich genauso wie immer, nur dass es jetzt ständig Streit und Ärger gab. Schlimmer noch, sein Team war sichtlich gestresst und am Rande seiner Belastbarkeit. Das waren zwar alle vor der Agilisierung auch schon gewesen, aber angeblich sollte agiles Arbeiten doch Spaß machen!
Ihm schien aber, dass seine Mitarbeiter nun sogar noch stärker unter Druck waren als zuvor. Letzte Woche war einer seiner besten Mitarbeiter – Peter – nach acht Wochen Krankschreibung wegen Burn-out zurückgekommen. Jetzt redete er immer von Resilienz und Achtsamkeit, dazu hatte er in der Klinik viel gelernt und wollte jetzt Meditation in der Arbeitszeit einführen. Die Kollegen machten sich darüber nur lustig …Und eine Woche vorher hatte Alexander erfahren, dass es in der Nachbarabteilung einen Selbstmord gegeben hatte, und es gingen Gerüchte um, dass der betroffene Ingenieur die andauernden Veränderungen nicht mehr ertragen hätte.
Mit hängendem Kopf saß Alexander nun da und wusste nicht weiter. »Vom Hiersitzen und Trübsalblasen wird es nicht besser, so komme ich auf keine Lösung. Am besten hole ich mir erst einmal einen Kaffee drüben im Café.« Der Weg zum Café führte durch einen Park. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und eine Gruppe von Hunden spielte ausgelassen miteinander. Amüsiert beobachtete Alexander die friedliche Szenerie und für einen Moment vergaß er seine Probleme. Während er so weiterschlenderte, kamen ihm Erinnerungen an seine Fortbildung in den Sinn. Die Seminarleiterin hatte beispielsweise davon gesprochen, wie wichtig es sei, eine Vorstellung davon zu haben, wohin die Reise gehen sollte, und er hörte sie noch sagen: »Wenn ihr euer Team mit auf die agile Reise nehmen und sie davon begeistern möchtet, dann erzählt ihnen euer ›Wozu‹, den Purpose.«
Mittlerweile im Café angekommen, bestellte er sich einen doppelten Espresso und setzte sich ans Fenster. Er kam ins Grübeln. Hatte er sich eigentlich jemals über seine Vorstellung vom Sinn und Zweck des Ganzen mit dem Team ausgetauscht? Und worum ging es den oberen Führungsetagen und der Geschäftsführung ganz konkret? Er hatte keine Ahnung! Und sein Team dann ja logischerweise auch nicht. Aber reichte es denn nicht, die Wertschöpfungsschätze heben zu wollen, die doch nachgewiesenermaßen mit agilem Arbeiten zu finden sein sollten? Gerade letzte Woche noch hatte er gelesen, dass aktuelle Studien die Wirksamkeit der Agilität bestätigen. Und außerdem hieß es da, agile Unternehmen mit flachen Hierarchien wären für Mitarbeiter attraktiver als Konzerne, in denen noch nach althergebrachter Art gemanagt würde. Und agiles Arbeiten würde die Produktivität, die Kreativität und Innovationskraft von Teams geradezu explodieren lassen … Okay, bei Marco war das so und bei ihm auch. Aber bei seinen Mitarbeitern? Die meisten würden wohl lieber wieder wie gewohnt arbeiten. Da explodierte gar nichts – ganz im Gegenteil! Nur weil er nie mit dem Team darüber gesprochen hatte, wozu sie eigentlich anders arbeiten sollten? War das der Grund? Oder woran lag es noch, dass die Agilisierung bei ihnen nicht zündete?
»Ist meine Art zu führen eigentlich agil? Oder habe ich aus alter Gewohnheit die agile Idee einfach angeordnet und das Team zu wenig einbezogen?« Alexander wollte gerade seine Espressotasse zum Mund führen, als er mitten in der Bewegung innehielt. »Wie sollte denn die Zusammenarbeit plötzlich anders sein als vorher, nur weil jetzt andere Praktiken eingesetzt werden?« Ihm fiel auf, dass bei der Scrum-Schulung zwar gezeigt worden war, wie es angewendet werden sollte, aber konnte die neue Arbeitsweise denn funktionieren, mit derselben Art des Denkens, die sich teils jahrzehntelang während einer ganz anderen Art des Arbeitens entwickelt hatte? Und wie bewusst war seinem Team eigentlich, dass dem Unternehmen gar nichts anderes übrig blieb, als agiler zu werden, wenn es in Zukunft noch wettbewerbsfähig bleiben und überleben wollte?
Alexander beschloss, die Flinte noch nicht ins Korn zu werfen. Er würde mit seinem Team ins Gespräch kommen und gemeinsam mit ihm Lösungen entwickeln, um die Hürden auf dem Weg zur Agilität aus dem Weg zu räumen. »Wenn ich gleich wieder im Büro bin, lade ich alle zu einem Meeting ein«, dachte er jetzt wieder hoffnungsvoll, trank den letzten Schluck seines Espressos und machte sich beschwingt auf den Rückweg durch den Park.
Kommt Ihnen manches bekannt vor? Oder erscheint es Ihnen zu dramatisch? Alexander und sein Team gibt es natürlich in Wirklichkeit nicht. Frei erfunden sind sie allerdings auch nicht. Denn sie setzen sich aus »echten« Menschen zusammen und repräsentieren in verdichteter Form das, was ich als Beraterin, Agile Coach und Scrum Master in den letzten Jahren in Unternehmen erlebt habe und aktuell erlebe.
Manchmal kommt es aus den Chefetagen, manchmal drängen die Beschäftigten zum Wandel: »Wir müssen agiler werden!«, heißt es in immer mehr Unternehmen und Institutionen aller Branchen. Agiler? Manch einer kann es schon nicht mehr hören: »ädscheil«, häufig vollmundig als Allheilmittel für alles propagiert, was in Unternehmen nicht rundläuft. Fast ebenso oft aber mit Misstrauen und Ablehnung betrachtet und als »neumodischer Kram« abgetan, der genauso wie all die anderen modernen Methoden bald wieder verschwinden wird und »bei uns hier« sowieso nicht funktionieren kann.
Der Versuch, sich eine eigene Meinung zu bilden, endet häufig in diffusen Vorstellungen und Verwirrung, da die Informationen in der Literatur, im Internet oder bei Veranstaltungen mit Best-Practice-Beiträgen agiler Unternehmen sehr breit gefächert und teils widersprüchlich sind und darüber hinaus häufig als zu »abgehoben« erscheinen, um in der eigenen Praxis nutzbringend anwendbar zu sein. Kurz: Vielerorts knirscht es gewaltig bei der Umsetzung von Agilität!
In der Folge treffen mein Team und ich in den letzten Jahren in Unternehmen auf eine große Bandbreite unterschiedlicher Herausforderungen: Da gibt es diejenigen, die mir stolz von ihrem hohen Agilitätsgrad berichten, sich aber noch nie das agile Manifest angesehen haben. Andere kennen das Manifest zwar fast auswendig, sind aber unsicher, was sie daraus für die Praxis ableiten könnten. Es lässt ja doch recht viel Interpretationsspielraum, oder?
Einige zögern den Start einer agilen Transformation immer weiter hinaus, weil sie sich vor deren Komplexität fürchten, andere stehen gerade hilflos vor den ersten Hürden, wieder andere sind schon gescheitert und haben das Thema Agilität für sich abgehakt. Dann gibt es noch diejenigen, die sich ganz sicher sind, schon »superagil« zu sein, aber eigentlich nur »Pseudo-Agilität« betreiben und sich über die ausbleibenden Erfolge wundern. Und schließlich gibt es auch Unternehmen, die agil sind, ohne es zu wissen, oder es anders nennen, beispielsweise »lernende Organisation«.
Und die Menschen, die in einem solch turbulenten Umfeld experimentieren, sich anpassen und lernen müssen? Ein Teil ist geradezu euphorisch begeistert, ein anderer Teil winkt genervt und desillusioniert ab, und einem weiteren Teil fällt es schwer, sich von den gewohnten Vorgehensweisen zu verabschieden, und er hat Angst vor der ungewissen Zukunft. »Zum Wahnsinnigwerden!«, höre ich immer wieder. Viele geraten durch agile Arbeitsformen stark unter Druck. Kein Wunder, denn es geht aktuell nicht nur um einen weiteren Changeprozess, sondern um einen echten Umbruch: Das Gewohnte funktioniert nicht mehr richtig, das neue noch nicht . Das zehrt an den Nerven! Und spätestens bei dem häufig zu hörenden Sprüchlein »Es geht nicht darum, agile Dinge zu tun, sondern agil zu sein« fragt sich manch einer verständlicherweise, wie das denn gehen soll und was man bitte konkret von ihm erwartet.
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