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Entsetzt spürte Leones Danaels Hand erschlaffen. Wenn sie ihm entglitt, würde sein Kamerad in die Tiefe stürzen. Hastig packte er fester zu. Der harte Griff ließ Danael die Augen aufreißen. Schon seit einer Weile drohte er vor Entkräftung ohnmächtig zu werden, doch sie hatten bereits zu viel Zeit verloren, um ein zweites Mal zu landen. Zum Glück zeichneten sich die Türme Nehoras bereits vor ihnen gegen den Nachthimmel ab.
»Wir sind gleich da«, versicherte Leones. »Hältst du noch durch?«
Danael richtete den müden Blick auf die Festung. In der Dunkelheit lauerte sie auf dem Hügel wie ein zum Sprung geduckter Greif. Menschen und Elfen hatten sie einst gemeinsam errichtet, auf der steilsten Erhebung eines Höhenzugs, der die Elfenlande von den Sümpfen des Fallenden Flusses trennte.
»Ich versuch’s«, flüsterte Danael. Der Schwerelosigkeitszauber kostete ihn zu viel Magie. Obwohl Sturmlöwes nachlassende Kräfte sie gezwungen hatten, tagsüber zu rasten, war der Sohn Heras am Ende.
Leones wünschte, er hätte sich ebenfalls leicht machen können. Greife hassten Nachtflüge. Mit der Sonne schwanden die warmen Aufwinde, auf denen sie tagsüber segelten. Er konnte spüren, wie sehr sich Sturmlöwe anstrengte, um sie alle drei am Himmel zu halten – auch wenn Danael wie eine Fahne hinter ihnen wehte. Wäre ihr Anhängsel nicht gewesen, hätte er sich wenigstens flach hinlegen können, um den Greif möglichst wenig zu stören. Doch dann hätte Danael vor Sturmlöwes Brust herabhängen müssen, wo ihn der Wind ständig gegen den Greif gedrückt hätte.
»Gleich ist es geschafft.« Wie zur Entschuldigung strich Leones über Sturmlöwes Mähne. Der alte Junge hatte etwas Zuwendung und ein paar Leckerbissen verdient, doch Leones durfte sich nicht damit aufhalten. Sein Bericht duldete keinen weiteren Aufschub.
Auf der Plattform des Nordturms hob die Nachtwache grüßend eine Hand. Es war zu dunkel, um auf die Entfernung ein Gesicht zu erkennen, aber das blonde, im Mondlicht weiß aussehende Haar und der ebenso helle Mantel aus gesteppter Rohseide verrieten Die Faust. Leones erwiderte den Gruß der Tochter Heras. Mittlerweile hatte er sich gemerkt, dass sie Rhayuna hieß, doch hinter ihrem Rücken wurde sie Die Faust genannt, weil sie im Nahkampf allen überlegen war.
Danael wurde schwerer. Rasch zerrte Leones ihn näher, versuchte, ihn auf den Rücken des Greifs zu ziehen, damit er der Schwinge nicht in die Quere kam. »Bleib wach!«, herrschte er ihn an, doch Danael hob kaum noch die Lider. Sturmlöwe sank, obwohl sie die Mauern noch nicht erreicht hatten. Hektisch lehnte sich Leones nach hinten, das Zeichen für den Greif, höher zu fliegen. »Komm schon! Du schaffst das!«
»Was ist los?«, gellte Rhayunas Stimme. »Willst du dir an der Mauer den Dickschädel einrennen?«
Leones stand der Sinn nicht nach dummen Scherzen. Sturmlöwes Muskeln zitterten unter ihm. Selbst wenn es der Greif noch auf den Wehrgang schaffte, würde es eine unsanfte Landung werden. »Wir brauchen den Heiler!«, brüllte er und hielt die Luft an, während die Mauer näher und näher kam. Wenigstens gewann Sturmlöwe wieder an Höhe.
»Perian!«, rief Die Faust und eilte vom Nordturm herab. »Perian, wach auf!«
»Hoch!«, schrie Leones. Schon streckte Sturmlöwe die Vorderpranken aus und langte nach der Mauerkrone. Krallen kratzten über Gestein. Leones warf sich nach vorn, als könnte er sie alle drei damit über die Kante katapultieren. Einen Lidschlag lang hingen sie senkrecht an der Mauer. Leones’ Linke krampfte sich in Sturmlöwes Mähne, während seine Rechte Danaels Hand umklammert hielt. Bewusstlos baumelte der Sohn Heras über dem Abgrund, doch im gleichen Moment krümmte sich Sturmlöwes Rücken. Der Greif stieß sich mit den Hinterbeinen von der Mauer ab, schlug gleichzeitig mit den Flügeln und wuchtete sich mitsamt seinem Reiter auf den Wehrgang hinauf. Nur Danael hing noch immer davor und riss Leones fast von Sturmlöwes Rücken. Hastig umschlang Leones den Hals der Chimäre, die unter ihm zusammengebrochen war. Selbst wenn sie nur dalag, war sie zu schwer, um über den Rand in die Tiefe gezogen zu werden.
Eilige Schritte näherten sich, dann tauchten Stiefel in seinem Blickfeld auf. Fluchend fiel Die Faust auf die Knie und beugte sich über die Kante. »Ich hab ihn. Zieh!«
Leones richtete sich auf, um mit beiden Händen zupacken zu können.
»Bei allen Alfaren«, knurrte Rhayuna. »Ist er etwa tot?«
»Nur ohnmächtig«, presste Leones zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Zumindest hoffte er das. Es wäre so viel leichter gewesen, ihn heraufzuziehen, wenn Danael aufgewacht wäre, doch er blieb schlaff und schwer wie ein Sack Getreide. Gemeinsam zerrten sie ihn auf den Wehrgang und rollten ihn von der Kante und dem Greif weg, der noch immer schnaufend auf den Steinen lag.
Währenddessen drang Theremons dunkle Stimme aus dem Hof herauf. Der Erste Nehoras pochte an die Tür des Heilers, dass es von den Mauern widerhallte. »Perian! Aufstehen!«
Leones beugte sich über Sturmlöwe. Für einen Moment berührte seine Stirn den klobigen Schädel. Danke, alter Krieger. Er wusste, dass Worte dem Greif nichts bedeuteten. Sie konnten nicht wettmachen, was er Sturmlöwe abverlangt hatte, und Greife waren nachtragend, sehr nachtragend. »Ich schieß dir morgen einen Hirsch«, versprach er und wandte sich wieder Rhayuna zu, die bereits ihre Arme unter Danaels Achseln geschoben hatte und ungeduldig die schmalen Lippen verzog.
»Hoch mit ihm!«, ächzte sie beim Anheben.
Rasch griff Leones unter Danaels Knie und half ihr, ihn zur Treppe zu tragen. In Gedanken durchlebte er die knappe Landung noch einmal. Beinahe hätte der Greif die Mauer nicht erreicht. Dann lägen sie jetzt mit gebrochenen Knochen auf dem steinigen Hang – oder wären tot. Schaudernd versuchte er, den Schreck abzuschütteln, der ihn wie ein Raubtier im Nacken gepackt hielt.
»Würdest du mich … vielleicht einweihen?«, murrte Die Faust. Auf jeder Stufe stieß sie einen Satzbrocken heraus. »Werdet ihr verfolgt?«
»Ich glaube nicht.« Konnte er sich dessen sicher sein? »Jedenfalls … ist uns niemand auf den Fersen.«
Von unten kam ihnen Theremon entgegen und drängelte sich an Leones vorbei zu Rhayuna. »Ich übernehme. Zurück auf deinen Posten!«
Die hagere Kriegerin nickte nur, während sie Danael vorsichtig ihrem Befehlshaber übergab. Wie befreit eilte sie die Stufen wieder empor. Theremon musste wach gewesen sein, als er ihre Rufe vernommen hatte, denn er war bekleidet und trug den Harnisch aus verleimtem Leinen, den die Abkömmlinge Ardas anderen Rüstungen vorzogen. Er hatte sogar Zeit gefunden, den Schwertgurt anzulegen, bevor er auf den Hof hinausgerannt war. »Was ist passiert?«, verlangte er zu wissen.
Unter dem Vorwand, auf die Stufen achten zu müssen, wich Leones Theremons bohrendem Blick aus. Dass er es unverletzt mit Sturmlöwe zurückgeschafft hatte, während Danael bewusstlos und dessen Greif tot war, warf kein gutes Licht auf ihn. Zumal ihn ohnehin alle für einen Verräter hielten. »Wildfang wurde im Nebel angegriffen. Es hat ihn erwischt, bevor wir den Feind überhaupt sehen konnten. Sturmlöwe musste uns beide da rausholen, also hat Danael mit Magie nachgeholfen.«
Bevor sie ihn zum Ersten Nehoras ernannt hatten, war auch Theremon Fernspäher gewesen. Er musste wissen, dass kein Greif zwei Reiter tragen konnte. »Das erklärt seine Verwundung nicht«, stellte er jedoch fest. In seiner Stimme lag die Schärfe des unausgesprochenen Vorwurfs.
»Er ist nicht verletzt!«, blaffte Leones. Der Erste mochte sein Vorgesetzter sein, aber das gab Theremon noch lange kein Recht, ihm grundlos Feigheit oder Verrat zu unterstellen.
»Was ist dann mit ihm?«, fragte Perian, der am Fuß der Treppe auf sie wartete. Der Heiler hatte eine Laterne mitgebracht und leuchtete ihnen den Weg in das kleine Lazarett, das seit Jahren nicht mehr genutzt worden war.
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