Sogleich glaubte Laurion, heimliche Blicke auf sich zu spüren. »Was schätzt du, wie lange sie uns hier festhalten werden?«
Mahanael hob ratlos die Schultern. »Ich weiß nicht, wie weit die Grenzwächter entfernt sind und wie schnell sie zu einer Entscheidung kommen.«
»Kann der Kaysar uns helfen?«, fragte Nemera bang.
»Er hat uns nicht einmal in Sianyasa angekündigt«, wagte Laurion einzuwenden.
»Er war in Eile, um diesem Riesen zu folgen«, verteidigte sie Athanor.
Er war in Eile, um Elfen zu retten, während wir hier von ihnen bedroht werden , grollte Laurion im Stillen. Auf wessen Seite steht er eigentlich?
»Ich weiß nicht, wie viel Athanors Wort bei den Grenzwächtern gilt«, gab Mahanael zu. »Ameahim hat wohl recht. Ich bin nur ein Seemann, der nichts von den Vorgängen an Land versteht.«
Nemera seufzte. »Also gut. Ich glaube zwar, dass Ihr sehr viel mehr seid – was Ihr ihm auch deutlich gesagt habt –, aber vorerst sollten wir uns darauf einstellen, ein paar Tage zu bleiben. Müßiggang bringt die Leute nur auf dumme Gedanken«, fügte sie mit einem Blick auf Otreus leise hinzu.
Rasch teilte sie die Flüchtlinge dazu ein, Unterstände aus jungen Baumstämmen und Schilf zu errichten, Holz für Kochfeuer zu sammeln und am Ufer die salzverkrustete Wäsche zu waschen. Rhea und Laurion schickte sie aus, um nach Kräutern und Beeren zu suchen – die einzige Aufgabe, die seinem Rang als Magier halbwegs angemessen war.
Zögernd erkundete er mit Rhea die Umgebung. Neugierig lief das kleine Mädchen voraus und führte ihn so immer weiter fort. Insgeheim erwartete er, jeden Augenblick auf einen versteckten Elfenkrieger zu stoßen, doch nichts dergleichen geschah. Waren sie wirklich allein auf der Insel? Obwohl ihm die Beobachter nie aus dem Kopf gingen, nahm er schließlich sogar ein kurzes Bad im Fluss. Endlich juckte kein Salz mehr auf der Haut. Rhea tauchte wie ein Otter und holte stolz ein paar Muscheln herauf. »Für die Regentin«, verkündete sie, bevor sie in ihrem triefnassen, aber nun sauberen Kittel weiterzog. Ein paar essbare Beeren fanden sie tatsächlich, nur mit den Kräutern hatte Laurion kein Glück. Viele der Pflanzen waren ihm fremd, und selbst wenn sie einem dionischen Küchenkraut ähnelten, schmeckten sie noch lange nicht wie ihre Verwandten jenseits des Ozeans.
Beim Abendessen war Mahanael noch stiller als sonst. Laurion nahm an, dass ihr Freund um seine Familie trauerte, denn die Flutwelle hatte Sianyasa völlig zerstört, und fast alle Bewohner der schwimmenden Stadt waren ums Leben gekommen. Deshalb hatte Mahanaels Älteste ihn mit den Dioniern nach Everea geschickt, wo sie sich Obdach und Nahrung erhofft hatten.
Plötzlich stand Mahanael auf und trat mit entschlossener Miene vor Nemera. »Heute Vormittag haben wir Ameahim überrascht. Das war unklug, denn so fehlte ihm die Zeit, sein Vorgehen zu überdenken. Ich gehe noch einmal zu ihm und versuche, ruhig mit ihm zu sprechen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er davon. Im Schatten der Bäume verschwand er so rasch, dass es Laurion vorkam, als hätte ihn die Dämmerung verschluckt.
Besorgt sah Nemera ihm nach. »Das gefällt mir nicht. Dieser Ameahim ist zornig auf ihn, weil er uns hergebracht hat. Sagte er nicht, dass er ihn dafür zur Rechenschaft ziehen will?«
Laurion nickte. Es war mutig von Mahanael, den Elfenfürsten noch einmal aufzusuchen, aber …
»Darf er die Insel überhaupt verlassen?«, fragte Nemeras Zofe. »Er wurde bei dem Verbot nicht ausgenommen, oder?«
Vergeblich versuchte Laurion, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. War ausdrücklich von Menschen die Rede gewesen? »Ich fürchte nicht.« Brachte Mahanael nicht nur sich selbst, sondern sie alle in Gefahr? Laurion sprang auf. Wenn er sich beeilte, konnte er den Elf noch einholen. »Ich werde ihn aufhalten.«
»Aber seid vorsichtig!«, rief Nemera ihm nach.
Das habe ich vor. Solange er Mahanael fand, bevor er die Insel verlassen hatte, würde ihnen hoffentlich nichts geschehen. Doch leider wurde es mit jedem Augenblick dunkler, und Laurion verstand ohnehin nichts vom Fährtenlesen. Selbst eine Fackel hätte ihm daher wenig genutzt. Hastig stolperte er durch die Finsternis. Dornige Ranken schienen nach seinen Füßen zu angeln und rissen an seiner Robe. Wo befand sich die vermaledeite Brücke? Lief er noch in die Richtung, die Mahanael eingeschlagen hatte?
Vor ihm wurde es heller. Die Bäume wichen einer Lichtung, die von Schilf und Gesträuch umgeben war. Wo die Schilfgräser wuchsen, musste das Ufer sein. Wenn er dort entlanglief, würde er irgendwann auf die Brücke stoßen. Aber der schnellste Weg war es wahrscheinlich nicht. »Mahanael?«, rief er leise. Nur ein Rascheln im Gebüsch antwortete ihm.
Nicht trödeln! Wenn er schon den längeren Weg nehmen musste, galt es, umso schneller zu sein. Mit dem Lärm eines zornigen Büffels brach er durchs Gestrüpp. Manchmal geriet er ins Schilf, dessen scharfe Blätter in seine Füße schnitten, und schon im nächsten Moment versank er bis zu den Knöcheln in Schlamm und hastete auf trockenen Grund zurück. Wie groß war die verfluchte Insel eigentlich?
Ständig musste er auf den Boden achten, um nicht in einem Sumpfloch zu landen. Als er wieder einmal aufblickte, leuchtete zwischen den Halmen fernes Licht. War er womöglich im Kreis gelaufen?
Laurion reckte sich, um übers mannshohe Schilf zu spähen. Der flackernde Schein mehrerer Fackeln bewegte sich durch die Dunkelheit und spiegelte sich auf dem Wasser. Wer auch immer sie trug, kam näher. Vorsichtig eilte Laurion weiter. Schon konnte er Gestalten ausmachen, die über eine schmale Brücke schritten. Viele Gestalten. Und im Fackellicht glänzten Speerspitzen auf. Laurion erstarrte.
»Was habt ihr vor?« Erst die anklagende Stimme machte ihn auf den einzelnen Elf aufmerksam, der am Ende der Brücke stand. Mahanael.
»Wir werden die Menschen töten«, antwortete der vorderste Fremde. Auch er trug eine Fackel und hielt eines der gebogenen Schwerter in der Hand.
»Sie haben nicht gegen die Vereinbarung verstoßen«, protestierte Mahanael.
»Die Lage hat sich geändert«, gab der Schwertträger zurück. Er hatte Mahanael fast erreicht und hielt an. Misstrauisch ließ er den Blick schweifen. Offenbar fürchtete er, dass die Dionier im Dickicht lauerten. Laurion verwünschte seine weiße Robe und webte einen Zauber. Ich bin nur das Schilf. Ihr seht mich nicht, weil ich Schilf bin.
»Das Ewige Licht wurde zerstört!«, rief der Schwertträger wütend. »Diese Menschen bringen nichts als Unglück über uns!«
»Wie können sie das Ewige Licht zerstört haben? Sie waren doch die ganze Zeit hier«, hielt Mahanael dagegen. Doch seine Stimme klang unsicher. Aus irgendeinem Grund hatten ihn die Worte getroffen.
»Erst haben sie die Flutwelle gesandt, dann den Riesen«, schimpfte jemand.
»Sie wollen uns auslöschen!«, brüllte ein anderer.
Die aufgebrachten Elfen setzten sich wieder in Bewegung. Mit begütigend erhobenen Händen wich Mahanael zurück. »Ich lebe seit Monden bei ihnen. Sie sind unsere Freunde.«
»Du solltest dich schämen, Verräter!« Der Schwertträger schwang die Fackel nach ihm.
»Menschen sind tückisch«, tönte eine Kriegerin mit Schild und Speer. »Wir müssen sie töten, bevor sie uns im Schlaf ermorden!«
Unter aufgebrachten Rufen schob die Menge Mahanael von der Brücke. Am Ufer drängte sie sich um den Anführer und ihn.
»Wir schützen auch dich, du Narr!«, blaffte irgendjemand.
»Kein Elf darf mehr sterben, sonst ist seine Seele verloren!«
Laurion zitterte. Wovon sprachen sie da nur? Warum glaubten sie so fest daran, dass alle Menschen ihre Feinde waren? Er musste die anderen warnen. Für eine Flucht blieb kaum noch Zeit. Und wie sollten sie ohne Mahanael entkommen? Hin- und hergerissen starrte er auf die wütende Meute. Plötzlich zog sie weiter, und eine Gestalt blieb am Boden zurück. Mahanael!
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