Fallender Fluss, zwei Jahre nach Theroias Untergang
Hier stimmt etwas nicht. Leones lauschte in die neblige Herbstnacht. Solange kein Wind wehte, herrschte um diese Jahreszeit immer Stille im Moor. Selbst das Sirren der Stechmücken war längst verstummt. Und doch … Hätte er nicht wenigstens den Ruf eines Vogels hören müssen? Ein Rascheln im Gesträuch? Aber da war nichts, nur Sturmlöwes Atmen. Wie eine riesige Katze hatte sich der Greif zusammengerollt und schlief. Noch vor wenigen Jahren hätte Leones den Sinnen der Chimäre vertraut und sich entspannt zurückgelehnt. Schließlich waren sie nicht allein. Danael saß bei ihnen, und dessen Greif jagte hinter den Sumpfschweinen her, die sie bei der Landung aufgescheucht hatten. Doch Sturmlöwe war im Dienst der Grenzwache alt geworden. Sein Leib wurde immer knochiger, und Fell und Gefieder hatten den einstigen Glanz verloren. Nach einem weiten Flug wie heute konnte ihn nicht einmal die Aussicht auf Beute locken. Bedauernd strich Leones über den klobigen Löwenschädel. Er war stets stolz auf seinen Greif gewesen, einen der wenigen, die keinen Adlerkopf, sondern ein Löwenhaupt besaßen. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er zu alt war, um einen Reiter zu tragen.
»Es ist zu still hier.« Auch Danael spähte nervös in die Nacht. Da sein Gesicht ungewöhnlich schmal war, lagen die Augen zu eng beieinander, um als schön zu gelten, aber er besaß den scharfen Blick, den man allen Abkömmlingen Heras nachsagte.
»Soll ich ein Feuer machen?«, bot Leones an. Die Feuchtigkeit zog ihm bereits in die Kleider, und es wurde mit jedem Augenblick kühler. Längst hatte er sein inneres Feuer geschürt und nährte es mit Magie, um nicht mehr zu frieren. Was für ein unwirtlicher Ort. Kein einziger Stern zeigte sich am Himmel. Der Schleier, der neuerdings Sonne und Mondlicht dämpfte, verbarg sie. Gab es ihn nur hier, in den Sümpfen und Mooren entlang des Fallenden Flusses, oder trübte er auch den Himmel über Beleam?
»Nein, kein Feuer«, warnte Danael. Erneut sah er sich um und stand auf. »Es könnte Orks oder einen Oger anlocken.«
Nur zu gern folgte Leones seinem Beispiel. Sie hatten für ihr Nachtlager zwar einen halbwegs trockenen Platz gefunden, aber der Boden war dennoch klamm. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie den Spähflug die Nacht hindurch fortgesetzt, doch die Greife waren müde und hungrig.
Verstohlen behielt ihn Danael im Auge. Der Sohn Heras traute ihm nicht – wie alle in Nehora. Erst vor zwei Monden war Leones aus Beleam gekommen, und er wusste, was sie hier an der Westgrenze über das Verräternest dachten. Zu viele Söhne und Töchter Piriths hatten dort Dienst getan, weshalb Kavaraths Einfluss größer gewesen war als der des Kommandanten im fernen Uthariel. Nun waren beide tot, und die neue Kommandantin hatte Beleams Besatzung aufgelöst und auf die anderen Stützpunkte verteilt. So wollte sie die alten Verflechtungen zerschlagen und neuen Verrat verhindern.
Insgeheim nahm Leones die Strafe demütig an. Er war ein Verräter. Auch wenn er nicht damit gerechnet hatte, dass Kavarath über Leichen ging, trug er eine Mitschuld am Tod vieler Elfen und – noch schlimmer – am Verlust ihrer Seelen, da sie fern des Ewigen Lichts gestorben waren. Der Hohe Rat hätte ihn dafür auf Lebenszeit aus den Elfenlanden verbannt. Dagegen war die Versetzung nach Nehora fast ein Geschenk. Danael konnte nichts davon wissen. Es gab keinen Beweis und keinen Zeugen, der gegen Leones ausgesagt hätte. Doch sie alle vermuteten es und flüsterten über ihn.
Wachsam blickte sich Leones um. Nebelschwaden hingen so niedrig über den sumpfigen Wiesen, als ob sie an eine gläserne Decke stießen. Darüber reichte der Blick recht weit, gen Westen sogar bis zum hohen Schilf am Fluss. Langsam drehte sich Leones einmal um sich selbst. Vereinzelt erhoben sich Bäume und Büsche wie dunkle Skulpturen aus dem weißen Dunst und boten verborgenen Feinden Deckung. Es war so kalt, dass sein Atem als Wolke vor ihm aufstieg.
Plötzlich schrillte in der Ferne ein Quieken. Der Schrei eines Sumpfschweins, bevor ihm der Greifenschnabel die Kehle aufriss. Leones und Danael wechselten einen Blick. Alles schien in Ordnung. Wildfang hatte seine Beute gepackt und würde zurückkommen, sobald er sich den Wanst vollgeschlagen hatte. Mit etwas Glück würde noch eine Mahlzeit für Sturmlöwe bleiben. Doch gerade, als sie sich wieder ins Gras setzen wollten, gellte ein anderer Schrei durch die Nacht. Abrupt riss Sturmlöwe den Kopf empor. Selbst nach fast hundert Jahren Dienst in der Wache klangen für Leones alle Greifenschreie gleich. Er vermochte nicht zu sagen, ob sie Furcht oder Freude, Hunger oder Hass verspürten, aber die Chimären erkannten es. Ein weiterer Adlerschrei zerriss die Stille.
»Warte!«, rief Leones, doch es war zu spät. Sturmlöwe sprang bereits in die Luft. Der Flügelschlag wehte Leones eisigen Wind ins Gesicht.
»Was ist da los?« Hastig klaubte Danael seinen Bogen aus dem Gras.
»Keine Ahnung«, erwiderte Leones, während er sein Schwert zog. Sturmlöwe flog in Richtung der Schreie davon. Rasch nahm Leones die Verfolgung auf. Wurde Wildfang angegriffen? Warum kam das Biest dann nicht einfach zurück?
Neben ihm rannte Danael und legte im Laufen einen Pfeil auf. »Sieh dich vor! Das Moor ist tückisch!«
Leones nickte nur. Noch federte der Boden wie die Bohlen eines Stegs, doch schon wenige Schritte weiter sanken die Füße in Morast. Schlamm quatschte unter Leones’ Sohlen, zog erst zaghaft, dann immer fester an seinen Stiefeln. Nahebei glänzte Wasser zwischen den hohen Gräsern.
»Dort entlang!«, rief Danael und deutete auf ein helleres Stück Wiese. Einen Augenblick lang hing er fest. Leones hielt inne, um ihm zu Hilfe zu kommen, aber der Schlamm gab bereits schmatzend nach. Danael hetzte weiter, und Leones folgte ihm. Um ihre Füße spritzte Wasser aus flachen Pfützen auf. Wo steckte der verdammte Greif? Wildfangs Kreischen klang nah, und über ihnen forderte Sturmlöwes Brüllen den unsichtbaren Gegner heraus.
»Da!« Leones wies Danael die Richtung. Flatternde Schwingen ragten aus dem Dunst. Je näher sie kamen, desto besser konnte sein Blick den Nebel durchdringen. Wo war der Gegner? Steckte die Chimäre etwa in einem Schlammloch fest? Unvermittelt blieb Leones stehen. Vor ihm spiegelte sich das Mondlicht auf Wasser. Mit ausgestrecktem Arm hielt er Danael zurück. »Vorsicht!«
Der Weiher reichte so weit wie sein Blick. Schilf und Gräser ragten wie Inseln daraus hervor, aber dazwischen konnte er tiefer sein. Nur noch ein dünner Schleier trennte sie von Wildfang, der in flachem Wasser zappelte, dass es rauschte und spritzte. Zwischen seinen Schreien hackte er in die aufgewühlte Brühe, doch der Schnabel schien ebenso machtlos zu sein wie die verzweifelt schlagenden Flügel. Immer wieder schlugen sie, immer wieder bog sich Wildfangs Rücken bei dem Versuch, sich vom Boden zu heben. Vergebens.
»Bei allen Astaren!« Aufgebracht fuchtelte Leones mit dem Schwert, um Sturmlöwes Aufmerksamkeit zu erregen. Für eine solche Lage kannte er kein Zeichen, keinen Befehl, den der Greif verstanden hätte, und doch musste er irgendetwas tun. »Zieh ihn da raus, verdammt!«
Verblüfft sah er, wie Sturmlöwe herabkam und sich flatternd über Wildfang senkte. Begriff der Greif etwa doch, was man ihm sagte?
»Er steckt nicht im Schlamm«, warnte Danael leise und zielte unsicher hierhin und dorthin. »Seine Beine sind nicht weit genug eingesunken, um festzuhängen.«
Jetzt, da es Danael gesagt hatte, glaubte auch Leones, die Wahrheit zu erkennen. Oder lag es an Sturmlöwes Schwingen, deren kräftige Schläge den Nebel vertrieben? Gerade schlug der Greif die Zähne in Wildfangs Nacken und zerrte daran. Grollend und kreischend flatterten beide mit den Flügeln und sandten zitternde Wellen über den Teich. Ihr Lärmen übertönte jedes andere Geräusch. Sturmlöwe hob Wildfang höher als zuvor. Gebannt beobachtete Leones, wie sich Wildfangs Beine streckten. Irgendetwas hielt sie fest, aber im verfluchten Nebel konnte er nichts Genaues erkennen.
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