Mit dröhnendem Schädel schob er sich unter dem Brett hervor, was jähen Schmerz durch seine Schulter jagte. Ächzend ließ er den Kopf wieder auf die Planken sinken und beschloss, sich nie wieder zu rühren.
»Du musst nicht traurig sein, wenn du stirbst«, sagte Rhea. »Ich kann dich dann immer noch sehen. Und mit dir reden.«
Laurion öffnete die Augen. Das Mädchen lag direkt neben ihm und blickte ihm ernst ins Gesicht.
»Ich würde es trotzdem vorziehen, nicht zu sterben. Falls es sich vermeiden lässt. Wie geht’s den anderen? Sind wir entkommen?« Es war hell, aber nicht sonnig. Wenn Laurion den Kopf ein wenig drehte, sah er dichten Nebel.
»Die schlafen fast alle. Mentes mit den komischen Locken ist tot. Sie wollten ihn über Bord werfen, damit das Schiff leichter wird, aber das ist gemein. Er will in einer richtigen Gruft beigesetzt werden. Das hab ich ihnen gesagt.«
Jetzt müssen wir nicht nur die Wünsche der Lebenden, sondern auch noch der Toten erfüllen. »Und wo sind wir?«
»Irgendwo im Schilf. Mahanael sagt, im Nebel finden sie uns nicht.«
Laurion seufzte. Das klang nicht nach einem langfristigen Plan. »Ich muss mit ihm sprechen. Wir können uns hier nicht ewig verstecken.« Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich hoch. Das Schwanken des Boots und der Schmerz ließen ihn schwindeln, doch er schaffte es, auf den Füßen zu bleiben – er musste es, denn ein Sturz auf den Pfeil würde entsetzliche Qualen auslösen. Wie von selbst suchte sein Blick als Erstes nach Nemera. Sie saß an ihre Zofe Sirkit gelehnt, und die beiden Frauen stützten sich gegenseitig im Schlaf. Selbst Djefer war am Ruder eingenickt und lehnte schnarchend am Hintersteven.
»Emmos haben wir den Pfeil schon rausgezogen«, berichtete Otreus, der als Einziger Wache hielt. »Ich hätte auch bei Euch längst Hand angelegt, aber die Regentin wollte Euch nicht wecken.«
Noch mehr Schmerzen … Irgendwann musste es sein, und doch schob es Laurion wieder auf. »Gleich«, wehrte er ab. »Zuerst muss ich mit Mahanael besprechen, wie es weitergehen soll.«
Otreus brummte nur zustimmend. Miteinander vertäut lagen die Schiffe Bordwand an Bordwand. Auf der Kaysas Segen schliefen oder dösten alle. Laurion zögerte, aber sie mussten weiter, bevor sich der Nebel auflöste und sie neuen Angriffen preisgab. Als er stöhnend über die Bordwand stieg, öffnete Mahanael sofort die Lider. »Entschuldige«, bat Laurion. »Ich weiß, dass du Ruhe brauchst, aber …«
Mahanael winkte ab und setzte sich auf. »Wir Elfen kommen mit wenig Schlaf aus. Ich hätte mich nicht hingelegt, wenn ich noch irgendetwas ausrichten könnte, aber meine Magie war versiegt.«
»Dann kommen wir hier ohne deine Zauberkraft nicht weg?« Laurion fröstelte in der feuchten Morgenkühle.
»Der Nebel ist Fluch und Segen zugleich. Er verbirgt uns, aber er bedeutet auch windstilles Wetter. Und ohne Wind kommen wir nicht gegen die Strömung an.«
»Du willst flussaufwärts? Wäre es nicht klüger, zum Meer zurückzukehren?«
»Ja«, gab der Elf zu. »Aber genau das erwarten sie. Und wir hätten direkt an Everea vorbeifahren müssen. Dort hätten sie uns mit Sicherheit den Weg abgeschnitten. Deshalb habe ich die Richtung stromaufwärts gewählt.«
»Und jetzt sitzen wir hier fest.«
»Ich kann keine Wunder vollbringen.« Mahanael klang zerknirscht, aber auch etwas trotzig.
»Glaub mir, ich weiß, wie es ist, wenn alle Wunder von dir erwarten. Das ist unser Schicksal als Magier. Aber wenn sie es nicht tun, fehlt es mir sogar.«
Der Elf lachte leise. »Ohne dich wären sie gestern alle gestorben. Das ist Wunder genug.«
»Ohne dich allerdings auch«, betonte Laurion.
»Jetzt kümmern wir uns erst einmal um diesen Pfeil in deiner Schulter.« Mahanael stand auf und bedeutete Laurion, sich zu setzen.
»Wird das nicht schrecklich bluten?« Was für ein armseliger Versuch, es hinauszuzögern …
»Das wäre gut«, behauptete Mahanael. »Es spült die schlechten Säfte aus dem Körper, die sonst das Fleisch faulen lassen.«
»Du verstehst es, einem Verwundeten Mut zu machen.«
»Nicht jeder kann ein Talent für alles haben. Lass den Arm einfach hängen und beiß in den Ärmel des anderen!«
Widerstrebend grub Laurion seine Zähne in den Stoff, doch im nächsten Augenblick schlug er sie mit einem gedämpften Schrei hinein, dass die Fasern knirschten. Tränen quollen ihm zwischen zusammengekniffenen Lidern hervor, während Mahanael die Pfeilspitze aus dem Loch in der Robe friemelte.
»Schon vorbei«, verkündete der Elf und zeigte ihm die blutige Spitze.
Abwehrend hob Laurion die Hand und sah weg. Über seinen Rücken rann etwas Warmes, aber es schien weniger zu sein, als er befürchtet hatte. Das neuerliche Brennen in der Wunde ließ so bald nach, dass er sich fragte, ob man sich an Schmerzen gewöhnte, wenn sie immerzu wiederkamen.
»Braucht er keinen Verband?«, fragte Rhea von der Kemethoë herüber. Auch etliche andere waren aufgeschreckt und blickten Mahanael und Laurion an.
»Später«, antwortete der Elf. »Wenn die Blutung aufgehört hat. Aber du solltest die Robe ablegen, sonst wird sie mit der Wunde verkleben.«
»An dir ist doch ein Heiler verloren gegangen«, befand Laurion und stieg zurück auf die Kemethoë.
»Ich wünschte, es wäre so. Oder Meriothin wäre noch bei uns. Denn ich weiß nicht, wie man ohne Heilmagie Wundfieber verhindert.«
Laurion seufzte. »Aufmuntern ist wirklich nicht deine Stärke.« Schon fühlte er sich fiebrig, und vielleicht erklärte es auch den Schwindel, der ihn erneut befiel.
»Djefer, aufwachen!«, rief Mahanael, während sich Laurion wieder hinlegte. »Wir brechen auf!«
»Und wie kommen wir voran?«, fragte Emmos verblüfft. An seinem Arm prangte bereits ein Verband aus Streifen eines zerrissenen Kittels.
»Für ein wenig Wind kann ich wieder sorgen, nur werden wir nicht annähernd so schnell sein wie zuvor.«
»Aber was machen wir, wenn sich der Nebel lichtet?«, wollte Nemera wissen. »Auf dem breiten Fluss werden wir weithin zu sehen sein.«
»Das ist wahr, Herrin«, pflichtete Otreus ihr bei. »Aber wir dürfen unseren Vorsprung nicht gänzlich verspielen.«
Rasch setzten die Seeleute der Kaysas Segen das Segel und lösten die Boote bis auf ein Tau voneinander. Mahanael lenkte sein Schiff aus dem Seitenarm hinaus und zog die Kemethoë hinter sich her. Wachsam spähte Otreus in den Nebel, doch im grau-weißen Dunst rührte sich nichts. Laurion streifte die Robe ab und fror augenblicklich. Hastig breitete er sie wie eine Decke über sich. Bald hob sich der Nebel schneller als erwartet. Zwar blieb die Sonne eine blasse Scheibe, aber die Sicht reichte weiter, als ihnen lieb war. Und wie Mahanael befürchtet hatte, blieb natürlicher Wind aus. Laurion fiel ein, dass Eleagon kein Segel brauchte, um ein Schiff anzutreiben. Es ging zwar langsamer als mit Mahanaels magischem Wind, aber wenn die Abkömmlinge Ameas Wassermagier waren, hielt sie die Flaute demnach nicht auf. Bei dem Gedanken trat Laurion Schweiß auf die Stirn. Oder hielt ihn nur das Wundfieber fester im Griff?
»Ich muss uns unsichtbar machen«, murmelte er. Zwei Schiffe, so viele Menschen, das große Segel … Wenn er eines schaffte, dann auch zwei, oder nicht?
»Das ist gut«, lobte Rhea. Seit wann saß sie wieder bei ihm? »Ich helfe dir.«
Laurion rang sich ein Lächeln ab. Immerhin meinte sie es gut. Eifrig streckte sie sich neben ihm aus und legte den Kopf so dicht an den seinen, dass sich ihre Stirnen beinahe berührten. Woher hatte sie diesen Einfall? Ah, die fahrenden Seherinnen! Auf Märkten boten sie ihre Dienste als Wahrsagerinnen feil und taten so, als würden sie sich mit den Gedanken der Kunden verbinden. Natürlich hatten diese Darbietungen nichts mit echter Magie zu tun. Nie hätte der Magierorden diese Scharlataninnen aufgenommen. Sie zogen den Gutgläubigen nur die Münzen aus den Beuteln.
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