Allmählich kamen sie nah genug, um neben den angelandeten Schiffen etliche Gestalten zu erkennen. Doch selbst auf der Barke schienen alle zu sehr von den Geschehnissen am Boden gefesselt, um den nahenden Drachen zu bemerken.
»Dann sind sie weit gekommen«, ärgerte sich Mahalea. »So etwas darf uns nicht mehr passieren!«
Am Ufer konnte Athanor nun mehrere Gruppen unterscheiden. Einige Bewaffnete hielten die Flüchtlinge in Schach, die sich ängstlich zusammendrängten. Zwischen den anderen Elfen schien es jedoch Streit zu geben, denn sie standen sich unverkennbar drohend gegenüber. Gerade als Athanor anfing, zornige Stimmen zu hören, entdeckte jemand am Boden den Drachen und schrie eine Warnung. Alle Blicke richteten sich auf Akkamas. Auch die Besatzung der Barke fuhr aufgeschreckt herum.
»Nicht schießen!«, rief Mahalea. »Ich befehle Euch, unverzüglich zur Küste zurückzukehren und sie zu sichern! Was fällt euch ein, von meinen Anweisungen abzuweichen? Der nächste Riese könnte bereits gen Anvalon stampfen!«
Verdattert starrte die Mannschaft ihre Kommandantin und den Drachen an, der auf Augenhöhe vor ihnen in der Luft stand.
»Ihr habt gehört, was sie gesagt hat«, brüllte ein Elf im Heck. »Abdrehen! Kurs auf Everea!«
»Aber wir haben doch nur …«, begann ein anderer an Mahalea gerichtet.
»Schon zwei Giganten haben unser Land verwüstet!«, brüllte sie. »Sollen es mehr werden, während ihr ein paar harmlose Menschen jagt?«
Harmlos. Aha. Darauf kommen wir zurück.
Der Elf blieb die Antwort schuldig, und die Barke nahm rasch Fahrt auf. Unten am Ufer erkannte Athanor Grenzwächter, aber vor allem Krieger der Abkömmlinge Ameas, von denen es nur wenige bei der Wache gab. In Anvalon galten sie deshalb als besonders friedliches Volk, aber bei diesem Anblick bekam Athanor Zweifel.
Ohne auf eine Anweisung zu warten, landete Akkamas neben den Schiffen. Die Bewaffneten starrrten ihn teils entsetzt, teils feindselig an, während die Flüchtlinge ihm und ihrem Kaysar zujubelten. Dennoch wagten sie nicht, den Kreis der auf sie gerichteten Speerspitzen zu durchbrechen. Ihre Erleichterung rührte Athanor und schürte zugleich seine Wut auf die Elfen. Zornig blickte er auf sie hinab, doch nur Mahalea würde sie zur Vernunft bringen können.
Geschickt nutzte die Kommandantin, dass sie auf einem Drachen stand, und starrte die fremden Krieger förmlich nieder, bevor sie etwas sagte. »Ich verlange, auf der Stelle zu erfahren, was hier vorgeht!«
Einer der Grenzwächter, die sich mit den Amea-Kriegern angelegt hatten, brachte als Erster eine Antwort heraus. »Wir haben erfahren, dass zwei Schiffe mit menschlichen Eindringlingen gesichtet wurden. Deshalb sind wir ihnen gefolgt, um sie festzunehmen, wie es unsere Aufgabe ist.«
»Wir wurden an einem mit Ameahim vereinbarten Lagerplatz bei Nacht überfallen und beschossen!«, ertönte Nemeras Stimme. Sie war vorgetreten und hatte eine Speerspitze direkt vor der Brust. »Mentes ist tot!«, rief sie und deutete zu den Schiffen hinüber, wo vermutlich die Leiche lag. »Zwei weitere Männer wurden verwundet! Hätten wir etwa nicht fliehen, sondern uns erschießen lassen sollen?«
»Der Kerl soll den Speer runternehmen, sonst sorge ich dafür, dass er nie wieder einen in der Hand halten wird!«, knurrte Athanor.
»Du da!«, rief Mahalea und deutete auf den Amea-Krieger. »Waffe runter! Die Menschenfrau wird dich wohl kaum mit bloßen Händen umbringen.«
»Sie ist unsere Gefangene!«, gab der Kerl trotzig zurück.
»Eindringlinge sind Angelegenheit der Grenzwache, und solange die Söhne und Töchter Ameas nichts anderes im Hohen Rat geltend gemacht haben, fallen diese Menschen in meine Verantwortung. Soll diese Frage unsere Völker ausgerechnet in diesen schweren Tagen entzweien?«
» Sie sind schuld an unserem Unglück!«, schrie jemand empört.
»Wer weiß, was sie uns noch antun werden!«, stimmte eine Kriegerin ein.
»Menschen sind Meuchler! Deshalb dürfen sie unser Land nicht betreten!«, rief ein Grenzwächter, der zu den selbsternannten Henkern übergelaufen war.
»Macht euch nicht lächerlich!«, brüllte Mahalea. »Diese in Lumpen gehüllten Jammergestalten sollen eine Bedrohung sein? Wo ward ihr ach so tapferen Krieger, als der Gigant das Ewige Licht auslöschte? Wo ward ihr, als andere für euch in Theroia gegen ein Heer von Untoten kämpften? Lieber mordet ihr Kinder und Schwangere? Ihr seid eine Schande für euer Volk!«
Einige wichen beschämt zurück, andere blickten finster, aber nur einer hatte den Mut, etwas zu entgegnen. »Wenn die Grenzwache versagt, müssen wir uns eben selbst verteidigen!«
»Ihr solltet lieber hoffen, dass ihr nicht bald einen echten Grund habt, um zu den Waffen zu greifen«, gab Mahalea erstaunlich kühl zurück. »Die Grenzwache ist hier und bringt diese Gefangenen nach Anvalon. Der Hohe Rat wird über ihr Schicksal entscheiden. Geht nach Hause und haltet nach wahren Bedrohungen Ausschau!«
»Der Everos ist Amea-Gebiet«, protestierte der Krieger, der eine mit Perlmutt verzierte Rüstung trug. »Wir werden erst umkehren, wenn sie keine Töchter und Söhne Ameas mehr gefährden können.«
»Ihr seid freie Elfen und könnt gehen, wohin ihr wollt«, gab Mahalea zu. »Aber ich warne euch. Haltet eure Waffen von diesen Gefangenen fern! Ihr werdet unter den Augen der Grenzwache nicht wider das Sein freveln!«
* * *
Erst als keine Speere mehr auf sie gerichtet waren, atmete Laurion auf. Nur widerwillig wichen die Amea-Krieger zurück. Fröstelnd schlang er die Robe enger um sich, die an der Schulter vom getrockneten Blut steif geworden war. Lag es am Wundfieber, oder war dieses Land so kalt wie seine Bewohner?
»Lang lebe der Kaysar!«, rief jemand, als Athanor auf sie zukam.
»Unser Retter!«, jubelte Sirkit, und andere stimmten mit ein.
»Wird ja auch Zeit«, murrte Laurion leise. Immerhin hätten sie ihn beinahe erschossen, und Mentes war tot. Dass Nemeras Lächeln für Athanor dennoch die Sonne überstrahlte, presste ihm das Herz zusammen.
»Es tut gut, Euch lebend wiederzusehen, Herr.« Wie es ihr als Regentin zukam, verneigte sich Nemera vor dem Kaysar. »Wir waren erleichtert, als wir hörten, dass Ihr schon eingetroffen seid.«
»Ich bedaure, was Ihr durchmachen musstet«, versicherte Athanor und umarmte sie kurz, ohne jede Wärme. Sah sie denn nicht, dass dieser Mann nur Pflichtgefühl für sie empfand? Verächtlich verzog Laurion den Mund. Um das Lager mit ihr zu teilen, reichte es natürlich.
»Ich wollte Euch in Sianyasa erwarten, aber dann ereilte uns die Nachricht von einem gewaltigen Riesen, der die Hauptstadt der Elfen zu verwüsten drohte«, erklärte Athanor.
»Wir wurden schrecklich behandelt«, beklagte sich Nemera. »Wären Laurion und Mahanael nicht gewesen, hätten sie uns gestern alle ermordet! Nur dank des magischen Winds in unseren Segeln konnten wir entkommen.«
Athanor wandte sich dem Elf zu, der als Verräter mit ihnen gefangen genommen worden war. Auch ihn schloss er kurz in die Arme. »Wie es aussieht, hast du Leben und Seele für sie riskiert. Dafür werden wir dir nie genug danken können. Wenn ich irgendetwas tun kann, um dein Leid zu lindern, lass es mich wissen! Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Niemand kann die Toten meines Volks wieder lebendig machen«, erwiderte Mahanael ernst. »Deine Hilfe gegen unsere Feinde ist mir Dank genug.«
»Ich werde Peredin weitere Unterstützung anbieten, wenn er unseren Freunden im Gegenzug freies Geleit gewährt«, versprach der Kaysar.
»Das ist das Mindeste, was wir Elfen dir schulden. Ich schäme mich dafür, wie dein Volk aufgenommen wurde.«
Die strenge Elfenherrin, mit der Athanor hergekommen war, näherte sich, ohne den Flüchtlingen Beachtung zu schenken. »Meine Leute haben genaue Anweisungen erhalten, wie mit diesen Gefangenen zu verfahren ist«, teilte sie dem Kaysar in ruppigem Ton mit. »Darüber hinaus habe ich angeordnet, nach den drei übrigen Schiffen Ausschau zu halten und sie gegebenenfalls umgehend nach Anvalon zu eskortieren. Damit habe ich meinen Teil der Vereinbarung erfüllt. Nun erfüllt Euren und lasst uns umgehend nach Anvalon zurückkehren.«
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