»Scheint ihm wieder gut zu gehen. Danke.«
»Keine Ursache«, wehrte Perian ab. »Ich mag den alten Zausel. Er ist schlauer als die anderen.«
Leones nickte. »Er versteht mehr, als man glaubt.« Bevor er es unterdrücken konnte, verzog ihm ein Gähnen das Gesicht. »Wenn Theremon nicht nach mir verlangt hat, leg ich mich jetzt hin.«
»Er hat nichts dergleichen gesagt«, versicherte Perian und folgte ihm die Treppe hinab.
Leones war versucht zu fragen, was der Erste stattdessen von sich gegeben hatte, doch wenn es etwas Schlechtes gewesen war, würde Perian ihm ohnehin nicht die Wahrheit sagen. Also murmelte er nur »Gute Nacht!« und zog sich in sein Quartier zurück. Alles hier erinnerte ihn an Danael, mit dem er sich diese Kammer teilte, aber das war immer noch besser als ein misstrauischer Mitbewohner, der ihn jetzt womöglich mit Fragen gelöchert hätte. Es war jedoch mühselig, sich ohne Hilfe aus der grauen Rüstung zu schälen, deren einzelne Teile wiederum aus zahllosen lackierten Metallplättchen bestanden. Um die Schnallen und Bänder zu öffnen, musste er sich schmerzhaft verrenken. Als er sich endlich schlafen legen konnte, nahm er sich vor, schon bei Sonnenaufgang wieder aufzustehen. Es gelang ihm immer, zum gewählten Zeitpunkt aufzuwachen, selbst mitten in der Nacht. Danael staunte jedes Mal wieder darüber, und Leones konnte nicht erklären, wie er es machte. Er schlug einfach im richtigen Moment die Augen auf.
Da die Kammer keine Fenster hatte, fiel nur durch die Ritzen der Tür etwas Licht, doch es genügte, um zu verraten, dass der Morgen angebrochen war. Auf dem Weg zur Latrine sah Leones bei Sturmlöwe vorbei, der sich brummend zusammenrollte und weiterschlief. Gähnend kam ihm Die Faust entgegen. Nach der langen Nacht auf dem Nordturm wollte sie wohl ins Bett. An ihrer Stelle stand nun Perian dort oben, obwohl auch er die halbe Nacht gearbeitet hatte. Sie waren einfach zu wenige für einen schonenderen Dienstplan.
Vor seiner Wache musste der Heiler auch das Frühstück gekocht haben, denn im Speisesaal fand Leones dampfenden Hirsebrei vor. Hungrig schaufelte er den Brei in sich hinein. Seine letzte Mahlzeit lag schon einen Tag zurück. Während er noch ein paar Kellen Birnenkompott hinunterschlang, kam Theremon herein. Leones verging sogleich der Appetit.
»Danael ist wach und hat deinen Bericht bestätigt«, eröffnete ihm der Erste. Kein Lächeln, keine Entschuldigung. Als ob es nichts zwischen ihnen zu bereinigen gäbe. »Wir müssen mehr über diese Untoten erfahren.«
»Soll ich zurück zum Fallenden Fluss fliegen?«, fragte Leones nüchtern, obwohl er Theremon lieber am Kragen gepackt und geschüttelt hätte, bis der Erste seinen Irrtum zugab. Doch das war undenkbar. Seinen Vorgesetzten rührte man nicht an.
»Später. Dein Greif sieht nicht einsatzbereit aus. Es hätte auch keinen Sinn, dass er sich tagsüber verausgabt. Schließlich stehen die Wiedergänger nur bei Dunkelheit auf.«
Im Hof erklang Hufschlag. Die Patrouille kehrte zurück.
»Sturmlöwe soll sich für einen Nachtflug erholen«, ordnete Theremon an und ging zu den Reitern hinaus.
Verärgert blieb Leones sitzen. Er wollte niemanden sehen. Sie hielten ihn ja doch alle für einen Verräter. Erst als er draußen niemanden mehr hörte, kehrte er in sein Quartier zurück, hängte sich den Köcher mit Pfeilen um und schnappte sich einen Bogen. Greife hassten Nachtflüge, aber Theremon hatte recht, also musste er versuchen, Sturmlöwe gnädig zu stimmen. Am besten brachte er ihm den versprochenen Hirsch.
Erst als er am Fuß des Hügels durchs Unterholz streifte, verrauchte seine Wut. Trotz des leichten Dunsts vor der Sonne leuchtete das Laub in Rot und Orange, den Farben der Abkömmlinge Piriths. Er genoss den Anblick und lauschte den Rufen der Vögel. In der Ferne erklang das Röhren eines Hirschs. Leones folgte den Lauten, bis er auf Spuren stieß. Die Fährte führte ihn zu einem Flickenteppich aus Lichtungen und Wald, wo die Brunft der Hirsche in vollem Gang war. Mit gesenkten Geweihen forderten sich die Rivalen heraus, prallten aufeinander und verhakten sich. Aufgeregt liefen die Jungtiere umher, während die Hirschkühe von den Siegern zusammengetrieben wurden. Für Gefahren hatten sie in ihrer Raserei keinen Sinn. Leones pirschte sich an einen der erschöpften Verlierer heran und schoss ihm aus nächster Nähe einen Pfeil ins Herz.
Im Stillen bat er das Sein um Vergebung und vergrub drei Eicheln, die er unterwegs aufgesammelt hatte, um als Ausgleich für das Töten neues Leben zu spenden. Außerdem ließ er den Schädel, das Geweih und die schweren Innereien für die Aasfresser zurück. Selbst ohne Eingeweide wog der Hirsch noch so viel, dass Leones bald ins Schwitzen geriet. Mit geschulterter Beute schleppte er sich zur Festung hinauf und dämpfte durch Magie sein inneres Feuer. Sturmlöwe sah ihm erwartungsvoll entgegen.
»Damit sind wir quitt«, keuchte Leones und warf ihm den Hirsch vor. Grollend, als müsste er die Beute verteidigen, schlug der Greif die Zähne in den Kadaver und zerrte ihn in eine ruhige Ecke. Ihm zuzusehen, hätte ihn nur noch mehr gereizt, deshalb ging Leones zum Badehaus, um sich zu waschen. Nachdem er den sichtbaren Dreck losgeworden war, befreite er sich mit Wasser, Salz und Rauch vom Hauch des Todes, der jedem erfolgreichen Jäger anhaftete. Zu diesem Zweck stand eine Schale mit Räucherwerk bereit. Die Grenzer töteten öfter, als unter Elfen erwünscht war, weshalb sie bei vielen kein hohes Ansehen genossen. Leones hatte sich daran gewöhnt, aber wenn er in der Heimat zu Besuch war, wurde er von einigen Leuten gemieden.
Erfrischt marschierte er über den Hof, wo Sturmlöwe mit blutverschmiertem Maul an seiner Mahlzeit zerrte. Es wurde Zeit, nach Danael zu sehen, bevor sein Kamerad glaubte, dass er ihm gleichgültig war. Als er sich dem Lazarett näherte, öffnete sich gerade die Tür. Bei seinem Anblick blieb Keatos auf der Schwelle stehen und musterte ihn mit hellen, graugrünen Augen. Leones wappnete sich gegen weitere Vorwürfe. Obwohl sie versuchten, es niemanden merken zu lassen, wusste jeder, dass Keatos und Danael ein Liebespaar waren. Leones fand dieses Versteckspiel albern, aber Liebeleien waren in der Wache nun einmal nicht erwünscht, weshalb alle so taten, als gäbe es sie nicht.
Da sich Keatos nicht rührte, blieb Leones vor ihm stehen. »Bist du auch krank?«, zog er ihn auf, obwohl Keatos’ Gesicht immer diesen Grünstich hatte.
Nachsichtig lächelte der Sohn Ameas. »Danael ist nicht krank, nicht einmal verwundet, und das verdankt er dir.« Unvermittelt reichte er Leones die Hand. »Er hat mir erzählt, wie du ihn gerettet hast. Dafür danke ich dir.«
Überrascht erwiderte Leones den festen Händedruck. »Das hätte doch jeder für einen Kameraden getan.«
»Das hoffen wir«, sagte Keatos, während er davonging. »Aber wir wissen es nicht.«
Wenn sich der Sohn Ameas bewegte, musste Leones stets an fließendes Wasser denken. Vielleicht lag es am Schimmern des silberblonden Haars, vielleicht auch an den seidigen Stoffen, aus denen seine Kleidung geschneidert war. Er wirkte weiblicher als Die Faust, doch neben der hageren Kriegerin sah fast jeder verweichlicht aus.
Achselzuckend wandte sich Leones ab und ging hinein. Danael saß aufrecht am Kopfende des Betts, wo jemand die Wand mit Kissen gepolstert hatte. Wasser und Obst standen in Reichweite, und es roch nach Kräutern und Tee. »Ah, Leones.« Der Sohn Heras schien sich wirklich zu freuen, ihn zu sehen. »Geht es dir gut?«
»Sollte ich das nicht fragen?«, gab Leones zurück.
Danael lächelte schief. »Die Faust hat mir von unserer … Landung erzählt. Ich hing mit meinem vollen Gewicht an deinem Arm. Der Ruck hätte dir die Schulter auskugeln können.«
Jetzt, da er darüber nachdachte, tat Leones die Schulter tatsächlich weh. Unwillkürlich bewegte er sie, um das Gefühl zu vertreiben. »Halb so schlimm.«
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