»Hast du das auf dem Markt in Ehala gesehen?«, fragte Laurion.
Rhea schien einen Augenblick überlegen zu müssen. »Ja. Mama hat es immer gemacht.«
»Deine Mutter war eine fahrende Seherin?« Ich hätte sie längst nach ihrer Familie fragen sollen. Doch es war ihm zu grausam erschienen, sie an diesen Verlust zu erinnern.
»Sie hat den Leuten in den Kopf gesehen«, erklärte Rhea stolz.
Und Rhea sieht Geister. War an diesen Wahrsagerinnen doch mehr, als er ihnen zugetraut hatte? Aber mit Hellseherei verbarg man noch lange kein Schiff vor feindlichen Blicken. »Gut, äh, dann erinnere dich daran, was wir geübt haben. Woran musst du denken?«
Rhea schloss die Augen. »Ihr seht uns nicht«, flüsterte sie. »Wir sind der Fluss.«
»Sehr gut. Mach im Stillen weiter!« Schaden konnte es schließlich nicht. Auch Laurion schloss die Lider und stimmte sich ein. Es war leichter, etwas verschwinden zu lassen, das er berührte, deshalb machte ihm die Kemethoë wenig Sorgen, aber er konnte sich nicht auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren. Irgendwie musste er es schaffen, sie als Einheit zu betrachten. Das Tau. Wie eine Nabelschnur verband es die Schiffe. Perlen auf einer Schnur. So könnte es gehen. Deutlich sah er das Bild jetzt vor sich. Nun musste er nur noch seine Magie darauf lenken. Innerlich ließ er sich fallen. Ihr seht uns nicht, denn wir sind der Fluss. Der Rest Morgennebel, der nicht weichen will.
Plötzlich glaubte er, Rhea flüstern zu hören, doch nicht mit seinen Ohren. »Ihr seht uns nicht, denn wir sind das Wasser. Das Wasser, auf dem sich die Sonne spiegelt.«
Er war so überrascht, dass er die Augen öffnete und ihm das Bild entglitt. Konnte sie wirklich …
»Gütige Urmutter!«, entfuhr es Sirkits Tante. »Was ist das?« Sie klang so alarmiert, dass sich Laurion hastig aufsetzte. Ihr ausgestreckter Arm wies zum Himmel.
Otreus sprang auf. »Ein fliegendes Schiff!«
* * *
Athanor versuchte, möglichst gelassen zwischen Flügel und Stachelkamm zu sitzen, wo der Drachenrücken am breitesten war, doch gegen Mahaleas Furchtlosigkeit kam er sich lächerlich vor. Immer wieder stand sie aufrecht im Wind, den der schnelle Flug mit sich brachte, und um auf die Elfenlande hinunterzusehen, trat sie dorthin, wo es bereits abschüssig war.
Kunststück. Sie kann eben nicht fallen. Mit ihrer Magie würde sie einen Sturz in sanftes Hinabschweben verwandeln oder sich womöglich wieder auf Akkamas’ Rücken schwingen. Er dagegen … sah immer noch Eleagons zerschmetterten Körper am Fuß der Ordensburg liegen. Die vielen Brüche waren im zerfressenen Leichnam des Elfs deutlich zu erkennen gewesen. Nur die seltsame Kraft, die die Untoten in einem Stück hielt, hatte die Knochen zusammengefügt.
»Ich habe Euch noch nicht gedankt«, stellte Mahalea unvermittelt fest.
Athanor blickte auf. »Mein Verdienst war es nicht. Gegen dieses Ungetüm hätte ich rein gar nichts ausrichten können.« Verfluchte Wiedergänger. Er musste den Grund dafür herausfinden, sonst würden sich offenbar immer mehr erheben.
»Mein Dank gilt natürlich dem Drachen«, erwiderte die Kommandantin. »Es war selbstlos, dass Ihr Euch zwischen Anvalon und den Giganten geworfen habt. Mein Volk steht in Eurer Schuld, Akkamas.«
»Schmeichelt Ihr mir, um in Zukunft auf Greife verzichten zu können?«
Mahalea lachte bitter auf. »Ich wünschte, das wäre alles, worum ich mich sorgen muss.«
»Verzeiht mir«, bat der Drache. »Ich wollte es nicht an Respekt vor dem Unheil mangeln lassen, das Euer Volk getroffen hat. Aber ich habe nicht selbstlos gehandelt. Hinter diesen Untoten steht eine Macht, die der Feind allen Lebens ist. Ich habe meine Seite in diesem Kampf längst gewählt.«
Der untadelige, gute Held. Und schneidig anzusehen obendrein. Mahaleas kratzbürstige Art war sicher genau nach Akkamas’ Geschmack. Eine kleine Herausforderung nebenbei. Dann wollen wir es dir mal nicht zu einfach machen. »Glaubst du, dass du den untoten Riesen auch allein überwunden hättest?«
Irritiert sah sich Mahalea nach Athanor um. »Habt Ihr nicht gesagt, dass es allein sein Verdienst war?«
»Ich rede nicht von mir.«
»Der Kaysar spielt auf den Geist eines toten Drachen an, der uns zu Hilfe gekommen ist«, erklärte Akkamas. »Und ich fürchte, dass Eure Elfenmagier und ich ohne diese Unterstützung bald unterlegen wären. Mein Feuer allein hätte nicht ausgereicht, um sein aufgeschwemmtes Fleisch so großflächig in Brand zu setzen.«
»War es wirklich nur einer?«, hakte Athanor nach. »Ich frage mich nämlich, ob wir diese verfluchten Kletten mit über den Ozean gebracht haben.«
»Ich bin sicher, dass es lediglich einer war«, antwortete Akkamas. »Ich glaube, die Gegenwart meiner Schwester Berekket gespürt zu haben.«
Der einzige Drache, der sich dem Verrat an Theroia verweigerte. Und dafür starb. Athanor fand keine Worte dafür, was sein Freund dabei empfinden musste.
»Aber das bedeutet nicht, dass wir vor Verfolgern sicher sind«, gab Akkamas zu. »Ich verstehe zu wenig von Geistern, um es beurteilen zu können.«
»Dann seid Ihr mit diesen anderen Menschen vor Geistern geflohen?« Mahaleas Ton verriet, dass sie an solche Gespenster nicht glaubte.
»Jedenfalls nehmen wir an, dass es die Geister toter Drachen sind«, schränkte Akkamas ein. »Das Gefährliche an ihnen ist ja, dass wir sie nicht sehen.«
»Sie speien verdammt heiße Flammen, und fliegen können sie auch!«, fuhr Athanor auf. »Was zum Dunklen sollen sie sonst sein?«
»Wie dem auch sei«, sagte Mahalea. »Nun seid Ihr hier und stehlt meine Zeit.«
»Ich werde Euch daran erinnern, wenn Ihr mal wieder meine Hilfe braucht.«
»Davor mögen uns sämtliche Astare bewahren.«
»Ist das der Everos?«, fragte Akkamas so beiläufig, als hätte er den Streit nicht bemerkt.
Mahalea sah auf die hügelige Landschaft hinab, durch die sich ein breites silbriges Band schlängelte. »Ja, das ist er. Folgt einfach dem Fluss! Er führt uns direkt nach Everea, von wo aus meine Leute ihre Spähflüge wieder aufnehmen sollen.«
»Wurde die Stadt auch von der Flutwelle getroffen?«, erkundigte sich Athanor.
»Nein, sie liegt weit genug von der Küste entfernt.«
Mehr einfühlsame Fragen wollten ihm nicht einfallen. Wenn Mahalea kein Mitleid kannte, würde er sie mit Freundlichkeit auch nicht erweichen. Schweigend starrte er auf den Fluss hinab und hing düsteren Gedanken über ihren Gegner nach. Sollte der Dunkle die Elfenvölker durch diesen heimtückischen Angriff bereits besiegt haben, bevor sie begriffen, dass sie sich im Krieg befanden? Würden sie überhaupt noch kämpfen, wenn sie alles verloren glaubten? Er musste mit diesem Omeon sprechen, um mehr zu erfahren. Erst dann würde er Peredin von einem Bündnis überzeugen können.
Im ersten Augenblick hielt er den weißen Fleck über dem Fluss für eine ungewöhnlich niedrig hängende Wolke, doch irgendetwas an der Form erregte seine Aufmerksamkeit. Schon waren sie ein Stück näher, sodass er das Gebilde besser erkennen konnte. Für eine Wolke war es an einigen Stellen zu kantig.
»Ah, eine der Luftbarken, mit denen Euer Volk einst die Orkheere das Fürchten lehrte«, rief Akkamas.
»Wohl eher ein gefundenes Fressen für Drachen«, spottete Athanor.
Mahalea warf ihm einen bösen Blick zu, bevor sie sich wieder Akkamas zuwandte. »Diese Barke sollte nicht hier sein, sondern die Küste abfliegen. Ich muss wissen, warum sie gegen meine Befehle verstößt.«
Hinter der fliegenden Barke kamen am Ufer mehrere Schiffe in Sicht. Eines unterschied sich in seiner Form von den Elfenbooten, ein anderes besaß ein aus unterschiedlichen Farbtönen zusammengestückeltes Segel. Athanor merkte auf. »Das ist die Kemethoë ! Und die Kaysas Segen ! Eure Leute haben die Dionier gestellt!«
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