Eberhard zuckte zusammen.
»Ist das denn sicher?«, erkundigte er sich. »Jemand könnte den Wagen stehlen.«
»Mach dir doch nicht solche Sorgen«, sagte KISS 2.0 beschwichtigend. »Ich weiß ja, dass mein Vorgänger sich über so etwas den Kopf zerbrochen hat, aber ich bin darauf programmiert, alles etwas entspannter zu sehen. Auf die Dauer war es für die Kunden einfach zu belastend. Viele von ihnen wiesen mit der Zeit selbst immer paranoidere Züge auf. Und damit die Kunden sich jetzt entspannen, bin ich auch entspannter. Alle sind zufrieden, du wirst schon sehen.«
»Ah ja«, sagte Eberhard vage.
Der Gedanke, dass sein Wagen dort draußen mit angelassenem Motor auf ihn wartete, gefiel ihm nicht. Es musste nur irgendjemand vorbeikommen und sich vor ihm hineinsetzen, und schon wäre sein Auto weg. KISS hätte so etwas nie zugelassen.
Im Nachhinein begann Eberhard, seine Entscheidung ein wenig zu bereuen. Sicher, KISS war anstrengend gewesen, aber es hatte ja recht gehabt. Seine Paranoia bezüglich des Updates war völlig begründet gewesen. Sogar den Postboten hatte es durchschaut. Vielleicht hätte Eberhard ihm auch in den anderen Dingen etwas mehr vertrauen sollen. Es hatte schließlich in allem recht behalten.
»Und ich finde, du solltest dein Passwort für die KISS-App überdenken«, ergänzte KISS 2.0, noch immer gut gelaunt. »Das kann sich doch niemand merken. Ich habe gesehen, dass du überall sonst dasselbe Passwort benutzt. Das ist doch gut, so vergisst man es nicht so schnell. Und es ist schön einfach. Eberhard1 . Das kann man sich doch gut merken.«
Eberhard erschrak über ihrer Leichtfertigkeit.
»Pst!«, sagte er automatisch. »Nicht vor dem Wasserkocher.«
Der Hauptpatient in dieser Story ist natürlich kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eine KI. Und diese befindet sich auch nicht in psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung.
Davon einmal abgesehen springt die Paranoia in Form eines Verfolgungs- bzw. Verschwörungswahns als psychotisches Leitsymptom in dieser Geschichte sofort ins Auge. Weitere Hinweise zur differenzialdiagnostischen Einordnung liefert die Story hingegen nicht.
Auf den ersten Blick scheint am ehesten die F22.0, die wahnhafte Störung, vorzuliegen, die früher gelegentlich auch nur Paranoia, paranoide Psychose oder paranoider Zustand genannt wurde. Bei dieser Störung steht ein einzelner Wahn im Vordergrund, zum Beispiel, wie hier gut gezeigt, der Verfolgungswahn. Allerdings ist die wahnhafte Störung selten.
Auch die F20.0, die paranoide Schizophrenie, käme grundsätzlich als Diagnose infrage. Für Schizophrenie ansonsten charakteristische Symptome, wie eine ausgeprägt desorganisierte Sprechweise, bizarres Verhalten oder verflachter oder inadäquater Affekt, müssen hier nämlich nicht vorliegen, was die Differenzialdiagnose zwischen ihr und der wahnhaften Störung schwierig macht.
Grundsätzlich infrage kämen bei Verfolgungswahn auch noch andere Störungen, wie etwa die schizoaffektive Störung oder eine organisch bedingte Psychose.
Ohne weitere Informationen kann die Frage nach der vorliegenden Diagnose beim Hauptpatienten an dieser Stelle somit nicht letztgültig geklärt werden. Anders als bei dieser unveränderlichen , schwarz auf weiß gedruckten Geschichte hat es ein Psychiater bzw. Psychotherapeut einfacher: Er kann den Patienten im diagnostischen Gespräch, ebenso wie sein soziales Umfeld, gezielt befragen und so Diagnosen erhärten, andere verwerfen.
In der vorliegenden Erzählung wird jedoch noch eine Besonderheit beschrieben. Eberhard, aus Fleisch und Blut, hat sich offenbar bei seiner Haus-KI mit deren Verfolgungswahn angesteckt , sodass nun eine Art von gemeinsamer Paranoia vorliegt. Diese besondere Form der Psychose wird als induzierte wahnhafte Störung bezeichnet (F24), gelegentlich auch als Folie à deux.
Eberhard kann man jedoch eine günstige Prognose bescheinigen. Mit dem sorgenlos fröhlichen KISS 2.0 hat er gute Chancen auf eine Rückbildung seiner Verfolgungsängste und seines übertriebenen Misstrauens (vgl. hierzu auch den diagnostischen Kommentar zur Story »Folie à deux« von Monika Niehaus).

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