Die Ermittlungen verliefen im Sande. Da sowohl Doktor Marcin Malecha als auch sein Kollege die Auseinandersetzung nicht überlebt hatten, gab es niemanden, der Francescas Schilderung der Geschehnisse bestätigen konnte. Die Auswertung der Spuren belegte zumindest, dass sie selbst als Täterin nicht infrage kam.
So stand ihre Aussage gegen die Ausführungen der bestens ausgestatteten Rechtsabteilung der Firma DeepFlow. Ein von der Firma bezahlter Gutachter bestätigte nach Analyse der Krankenakte, dass Francesca kognitive Beeinträchtigungen aufwies und Wahnvorstellungen zu ihren Symptomen gehörten. Sie war eine traumatisierte Multilinkuserin, die unter dem Einfluss starker Medikamente stand. Ihre Aussage war somit zweifelhaft.
Außerdem fanden sich angebliche Indizien, nach denen ihr Arzt Kontakte in die kriminelle Szene gepflegt hatte. Er hatte in mittelgroßem Stil verschreibungspflichtige Medikamente verkauft und so Spielschulden beglichen. Scheinbar war ihm das zum Verhängnis geworden, man hatte ihn beseitigt. Der Schwarzhaarige war nicht polizeibekannt, die Behörden sahen aber eine Verbindung zum organisierten Verbrechen als wahrscheinlich an. In Summe hatte all das dazu geführt, dass die Fallakte schnell geschlossen wurde.
Francesca glaubte kein Wort der Darstellungen von DeepFlow. Konzerne legten sich die Dinge so zurecht, dass sie unbeschadet aus jeder Krise hervorgingen. Ihr war das mittlerweile egal. Sie wollte ein normales Leben ohne Medikamente und Psychologengespräche haben. Die Erlebnisse in der Arztpraxis hatten den Leidensdruck verstärkt. Der Chip musste weg. Das Wie war zweitrangig.
Ein Wettbewerber von DeepFlow nutzte die Gunst der Stunde und wartete mit einer Überraschung auf. Er bot ihr eine kostenfreie Desintegration des Chips durch Nanoagenten an, vermittelte Francesca einen Topexperten für das neue Post-Multilink-Syndrom und bereitete das Ganze medial auf. Eine Firma, die Verantwortung übernahm und sich besser als andere um die Konsumenten sorgte, war ein großartiges Werbevehikel.
Francescas anfängliches Misstrauen schwand nach und nach. Im Vorfeld bat sie der Experte zu mehreren Gesprächen und änderte dabei auch ihre Medikation ab. Seitdem fühlte sie sich klarer im Kopf, wacher, fitter. Ihr Tagesablauf war strukturierter, und sie fand die Kraft, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen.
Also saß sie wieder in einem steril weißen Stuhl und wartete darauf, dass der Spezialist die Infusion durchführte. Ihr neuer Arzt betrat den Raum. »Wie geht es Ihnen, Frau Ivorno?«, begrüßte er sie mit einem breiten Lächeln.
»Gut, danke der Nachfrage.«
»Wie läuft es mit der Jobsuche?«, fragte er, während er das Bedienfeld aktivierte.
»Ebenfalls gut. Langsam weiß ich, auf was ich hinauswill.«
»Und das wäre?«
»Irgendetwas zwischen Medizinstudium und Suchtberaterin«, lachte sie.
Er fiel in das Lachen ein. Dann griff er nach der Infusionsspritze und setzte sie an ihren Hals.
Es zischte. Schweigend beobachtete er sie mit professionell-analytischem Blick.
Am Rande von Francescas Gesichtsfeld wallten Schatten. Die Dunkelheit glitt langsam heran. »Ich glaube, mir wird schlecht«, stammelte sie.
Ihr neuer Arzt schlug die Beine übereinander und umgriff sein Knie mit verschränkten Fingern. An einem der Finger steckte ein goldener Ring. Dieser trug einen markanten schwarzen Stein.
Dann fiel Francesca ins Nichts.
In dieser Story können gleich mehrere Diagnosen differenzialdiagnostisch diskutiert werden. Die Protagonistin weist Halluzinationen auf. Die Diagnose einer wahnhaften Störung, F22.0, wäre allerdings fraglich, weil die Halluzinationen auf den defekten Gehirnchip zurückgehen. Übertragen auf die Gegenwartsrealität wäre ihre Ursache am ehesten hirnorganisch zuzuordnen, was mit der F06.2, einer organischen wahnhaften Störung, codiert wird.
Zudem leidet Francesca unter Entzugssymptomen sowie unter einer depressiven Symptomatik. Letztere kann man, je nach Auslöser und Schweregrad, als F43.2, Anpassungsstörung, und/oder als F32.1, mittelgradige depressive Episode, codieren.
Die Codierung einer Entzugssymptomatik gemäß ICD-10 dürfte hier schwerfallen, da die mit ihr einhergehenden psychischen und Verhaltensauffälligkeiten derzeit (noch?) ausschließlich mit psychotropen Substanzen in Verbindung gebracht werden (F10–F19: von Alkohol über andere Drogen bis hin zu Lösungsmitteln), nicht jedoch mit einem Hirnchip, wie er in der Story beschrieben wird. Hier bleibt der technische Fortschritt und die Aufnahme entsprechender Diagnosen in zukünftigen Ausgaben der ICD abzuwarten.
Den Verfolgungswahn der Protagonistin lasse ich diagnostisch undiskutiert, da dieser im Verlauf der Geschichte nicht bestätigt wird; Francesca wird tatsächlich verfolgt und manipuliert.
Der Autor selbst sieht die Hauptsymptomatik seiner Protagonistin in den zuerst genannten Halluzinationen und Wahnvorstellungen seiner Protagonistin.


Eberhard Vollmer erwachte in einem stockdunklen Zimmer.
Bereits das dritte Mal diese Woche erwachte er in einem stockdunklen Zimmer.
Eberhard tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe und blinzelte. Dann warf er einen prüfenden Blick auf das Display seines Handys. 6:32 Uhr. Zeit, den Tag zu beginnen.
Eberhard schwang die Beine aus dem Bett. Das Laminat war kalt unter seinen bloßen Füßen.
Ärgerlich starrte er zu seinem Schlafzimmerfenster hinüber, durch das die heruntergelassenen Rollläden keinen einzigen morgendlichen Sonnenstrahl dringen ließen. Eigentlich sollten sie um 6:30 Uhr automatisch nach oben fahren. So hatte Eberhard sie seit über fünf Jahren eingestellt. Seit über fünf Jahren hatten sie das jeden Morgen getan. Aber dann kam KISS.
Er griff nach der Fernbedienung und drückte energisch auf die Taste, die mit einem kleinen aufwärtszeigenden Pfeil markiert war. Die Rollläden rührten sich nicht.
Eberhard war nicht überrascht.
»Rollläden hochfahren«, versuchte er es per Stimmerkennung.
Die Rollläden rührten sich nicht. Seit vier Wochen dasselbe Problem. Aber heute würde es endlich ein Ende haben, jedenfalls wenn man der telefonischen Bestätigung des Kundenservices Glauben schenken durfte.
»KISS«, wiederholte Eberhard. »Rollläden im Schlafzimmer hochfahren.«
»E… Eberhard?«, klang die Stimme seines Künstliche-Intelligenz-Sicherheits-Systems aus seinem Handylautsprecher.
Eberhard zuckte zusammen.
KISS war auf die beruhigende Stimme eines jungen Mannes programmiert worden, dem man die Sicherheit seines Hauses problemlos anvertrauen konnte. Es war eine tiefe und doch kultivierte Stimme; wie ein bedrohlicher Türsteher, mit dem man auch mal über Hegels Dialektik diskutieren konnte, falls einem danach war. Jedenfalls hatte das im Prospekt gestanden. Und während der ersten beiden Monate hätte Eberhard es durchaus gelten lassen können.
In den letzten vier Wochen allerdings hatte KISS’ Stimme einen immer nervöseren Tonfall angenommen. Die Wirkung übertrug sich jedes Mal augenblicklich auf Eberhard.
Vor drei Monaten, als in seiner Straße gleich zweimal in ebenso vielen Wochen eingebrochen worden war, hatte ein intelligentes Sicherheitssystem, das man auf Paranoia programmiert hatte, wie eine durchaus sinnvolle Anschaffung geklungen. Das System sollte schließlich misstrauisch sein. Vermutlich hätte Eberhard vor dem Kauf das Kleingedruckte lesen sollen.
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