Die Lösung war die Infusion von Nanoagenten, und heute war es endlich soweit. Sie beschleunigte ihre Schritte.
Eine halbkugelförmige Haube hing an einem Dutzend Kabeln über Francescas Kopf. Das Behandlungszimmer war blütenweiß eingerichtet, und die blankgeputzten, weiß lackierten Gerätschaften glänzten steril im Licht der Behandlungslampe. Ein leises Brummen ging von der Haube aus.
Doktor Marcin Malecha betrat das Zimmer und griff nach dem Tablet, auf dem ihre Krankenakte geöffnet war. Er blätterte in der Akte, indem er über das Display wischte. Dabei hinterließ er feuchte Schlieren. »Ich möchte mir heute noch einmal Ihre Gehirnstruktur in der näheren Umgebung des Chips ansehen, zur abschließenden Vorbereitung des Eingriffs«, sagte er schließlich, leckte sich die Lippen und zog das Bedienfeld der Haube zu sich heran.
»Aber das haben wir doch schon in den letzten beiden Sitzungen gemacht.«
Ihr Arzt tippte konfus auf das Bedienfeld. Er schien immer wieder Auswahlschritte rückgängig machen zu müssen. »Ich möchte gerne detailliertere Aufnahmen erstellen. Je mehr wir über Ihren Fall in Erfahrung bringen, desto besser können wir Erkrankten in Zukunft helfen.«
Francesca sah ihn irritiert an. Waren das Schweißperlen auf seiner Stirn? »Das haben Sie mir schon erklärt. Wieso wiederholen wir die Untersuchung nochmals? Ich dachte, wir führen heute die Nanoagenten-Infusion durch?«
Er starrte sie schweigend an. Sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. »Nun … ja, das machen wir auch noch. Jedenfalls brauche ich ein paar ergänzende Werte.« Er konzentrierte sich wieder auf das Bedienfeld. Die Haube senkte sich ab, bis sie knapp über Francescas Schädel zum Stillstand kam.
Wieso wirkte er so nervös? Sie hatte ihn stets entspannt und freundlich kennengelernt. Selbst wenn sie herumzickte, war er immer ruhig geblieben. Was für Messungen mochten das sein, die er in den letzten Sitzungen noch nicht durchgeführt hatte?
»Ich verstehe, dass Sie Angst haben«, fuhr er fort. »Der Eingriff ist psychisch belastend, und in Ihrem Zustand werden Ängste möglicherweise verstärkt. Sie empfinden dann Emotionen, die überhaupt keine Grundlage in der Realität haben. Sie haben doch Ihre Tabletten genommen?«
War das der Grund? Gaukelte ihr Geist eine Bedrohung vor, die es gar nicht gab? Sie blinzelte, musterte den Mann vor sich. Es war warm hier unter der Behandlungslampe. Schwitzte er deshalb? War er nervös, weil er um ihren labilen Zustand wusste? Natürlich hatte sie Angst vor der Infusion. Aber deswegen musste sie doch nicht hinter jedem Busch einen Mörder sehen. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.
Die Haube senkte sich etwas weiter ab, sodass Francesca gerade noch darunter hindurchsehen konnte. Sie wischte ihre feuchten Finger an der Hose ab und trommelte mit ihnen auf ihrem Oberschenkel. Das Brummen der Haube schwoll an, als Doktor Malecha mit einem letzten energischen Fingerdruck die Eingabe abschloss. Daraufhin beobachtete er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen die Darstellungen auf dem Bildschirm des Bedienfelds. Er wirkte wieder ausgeglichen.
Für Sekundenbruchteile flackerte eine durchscheinende Gestalt in Francescas Gesichtsfeld auf. Sie blinzelte mehrmals. War das erneut eine Halluzination?
Dann war unvermittelt das Netz zurück. Nur einen winzigen Augenblick lang, aber sie spürte die Informationsströme deutlich. Verloren geglaubte Erregung mischte sich mit Angst. »Was tun Sie mit meinem Chip?«
Der Arzt schreckte auf. Irritiert schwenkte sein Blick von ihr zu seinem Display und zurück. Mit fahrigen Handbewegungen bearbeitete er das Bedienfeld. Seine Stirn glänzte wieder vor Schweiß.
Schmerz bohrte sich in Francescas Kopf. Er aktiviert den Chip! Das ist gefährlich, das hat er mir selbst gesagt! Panik schwappte in ihr hoch. Dann riss die Verbindung ab.
»Es ist alles in Ordnung«, versuchte der Arzt sie zu beruhigen, doch es klang nicht besonders glaubwürdig.
»Ich hatte Kontakt!«
Er sah sie an. »Das kann nicht sein. Das muss Einbildung sein.«
Wieder schien sie Anschluss an das Netz zu bekommen. Sie nahm Stimmen wahr. Bekannte Stimmen, die durcheinanderredeten. Waren das Sprachnachrichten, die unkontrolliert abgerufen wurden? Das Stimmengewirr brach abrupt ab. Francesca fiel auf, dass sie ihre Augen fest geschlossen hatte. Sie schlug sie auf.
Der Arzt streckte ihr in der flachen Hand eine gelbe Pille entgegen. »Nehmen Sie die, das wird helfen.«
Der Schmerz hinter ihrer Stirn wuchs an, verwandelte sich zu einem scharfen Stechen. Die Erinnerung an den Tag, an dem ihr Chip versagt hatte, brach wieder hervor. Sie schrie auf. Genauso hatte es sich angefühlt. Das soll endlich vorbei sein!
Die Pille flog in hohem Bogen davon, als sie die dargebotene Hand beiseite schlug. »Ich will Ihr Zeug nicht!« Sie griff an die Haube.
Der Arzt wollte sie daran hindern, aber sie stieß ihn in einer heftigen Reaktion von sich. Er wich einen Schritt zurück, ließ sie gewähren, während sie sich unter der Haube hervor und aus dem Behandlungsstuhl arbeitete. Dabei zuckten seine Arme unkontrolliert, als ob er sich nicht entscheiden konnte, sie beschwichtigend zu berühren oder unangetastet zu lassen. Erst als sie vor dem Display stand, sprang er nach vorn und schlug auf den Ausschalter.
Der Bildschirm erlosch. Aber einen Herzschlag lang hatte sie die Anzeigen gesehen. Ausleserate , Downloadgeschwindigkeit , Datensicherung.
Sie wirbelte um ihre Achse, packte den Mann am Kittel. »Haben Sie meinen Chip ausgelesen? Bin ich nicht schon kaputt genug?«
Er löste ihre Hände von seinem Kragen. Sein Gesicht war starr. »Ich weiß nicht, was Sie da reden. Ich habe Ihren Chip vermessen. Mehr nicht.«
»Der Chip war aktiv! Ich habe das Netz gespürt! Wollen Sie mich verarschen?« Die letzten Worte brüllte Francesca. Was fiel diesem Quacksalber ein, an ihr herumzumanipulieren?
»Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.« Doktor Malecha wandte sich dem Schreibtisch zu.
Mit einem groben Griff drehte sie ihn zu sich herum. »Sie sagen mir auf der Stelle, was das sollte! Was gehen Sie meine Daten an? Was wollen Sie damit?«
Die Tür flog auf und die Assistentin stürzte herein.
Der Arzt richtete sich steif auf. »Bitte verlassen Sie meine Praxis. Ein solches Verhalten kann ich nicht akzeptieren.«
Vor Wut unfähig zu einer Erwiderung wollte Francesca den Mann nochmals packen. Die Assistentin aber drängte sie zurück und bugsierte sie unsanft aus den Praxisräumen.
Francesca stürmte die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss hielt sie sich am Geländer fest, beugte sich vornüber, würgte.
Hoffentlich kotze ich nicht auf die Stufen.
Sie trat hinaus auf die Straße. Die frische Luft tat ihr gut, der Kopfschmerz flaute langsam ab. Mit zittrigen Beinen machte sie sich auf den Heimweg.
Sie verstand die Welt nicht mehr. Hatte dieser Mistkerl tatsächlich versucht, ihren Chip auszulesen? Warum setzte er ihre Gesundheit aufs Spiel? Was hatte er davon?
Mit Erschauern fielen ihr ihre Feelgoods ein, kurze Aufzeichnungen von Gefühlszuständen, in denen sie besondere – auch intime – Momente festgehalten hatte. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
War der Kerl auf der Suche nach solchen Datensätzen? Geilte er sich daran auf? Ihr Arzt war ihr gar nicht wie ein Perverser vorgekommen. Im Gegenteil, er hatte bei allen Gesprächen und Untersuchungen ein höchst professionelles Verhalten an den Tag gelegt.
Bis auf heute. Sie schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn.
Ein Rempler schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie stellte fest, dass sie gewohnheitsmäßig das neben ihrem Wohnkomplex gelegene Einkaufszentrum betreten hatte. Es wimmelte von Menschen. Dies war zwar der kürzeste Weg zu ihrer Wohnung. Aber heute überlegte sie ernsthaft, den Umweg um das Gebäude zu nehmen. Die vielen Menschen, die ständigen Berührungen behagten ihr überhaupt nicht. Sie wollte allein sein und nachdenken.
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