Ich glaube, ich gehe mal wieder zurück an den Computer. Sonst wird dieser Scheißwerbetext nie fertig.
Ich bin plötzlich so müde. Meine Gedanken kreisen. Kann kaum noch die Augen offen halten. Ich muss schlafen gehen. Habe mir ein extrabreites Sofa gekauft. Das Bett ist auf dem Sperrmüll gelandet. Dort habe ich mich nicht mehr wohlgefühlt, ausgeliefert irgendwie. Noch so eine Vermeidungsstrategie …
Es ist erst 19:28 Uhr. Das wird wieder eine beschissene Nacht werden. Eine beschissene Nacht nach einem ganz normalen Tag. In der Hölle.
Ich schlüpfe in mein Nachthemd. Ich trage keine Schlafanzüge mehr. Kann ich nicht. Ich würde immer an die Knöpfe denken. An den dritten Knopf von oben im vierten Loch. Und an den Knopf ganz unten, der keinen Platz zum Reinschlüpfen mehr gefunden hat. An die Falte zwischen Knopf zwei und Knopf drei, wo sich der Stoff aufbläht wie ein Segel.
Durchs All reisen, aber ein einfaches Pyjamaoberteil nicht zuknöpfen können. Das sind mir die Richtigen. Ganz schön schlampig, solche Beweise zu hinterlassen. Oder war das Absicht? Wollen die vielleicht, dass ich mich erinnere? Um mir zu sagen, dass das nicht alles war? Dass sie wieder kommen? Ich darf jetzt nicht an sowas denken.
Mir ist so komisch. Ich bin so müde, dass ich kaum die Augen aufhalten kann. Andererseits kribbelt alles in mir, als würden Ameisen durch meine Blutbahn kriechen. Ich vibriere geradezu vor Unruhe. Das ist nicht normal. Scheiße, das ist nicht normal! Es ist wie damals …
Beruhig dich! Ich denke an Doktor Meier. 5–4–3–2–1 .
Ich sehe das bläuliche Flimmern des Fernsehers. Das Fußende der Couch. Die Leuchtziffern des Weckers. Den Umriss des Fensters. Das Licht der Straßenlaterne davor. Ich höre die Fernsehstimmen. Das Brummen des Kühlschranks aus der Küche. Das Ticken der Wanduhr. Ein Auto fährt vorbei. Hupen.
Ich spüre das Sitzpolster an meinem Rücken. Das Kopfkissen an meiner Wange. Das Gewicht der Daunendecke. Die glatte Oberfläche des Nachttischchens unter meinen Fingerspitzen. Das Wasserglas. Ich sehe das Fernsehflimmern. Das Fensterkreuz. Das Laternenlicht. Die Sofalehne.
Ich höre … nichts. Nichts! Es ist totenstill. Der Fernseher flimmert nicht mehr. Nur noch ein starrer blauer Schein wie vom Testbild fällt durch die Tür.
Die Atmosphäre im Zimmer ist plötzlich dichter. Eine seltsame Schwere liegt in der Luft. Drückt nach unten. Wie vor einem Gewitter. Meine Haut juckt. Überall.
Nein! Nein!! Bitte nicht. Nicht nochmal. Nicht nochmal, bitte! Jemand steht neben mir . O Gott!! Sie sind da. Wie aus dem Nichts. Bin wie gelähmt. Kann nicht schreien. Geht weg! Bitte! Geht weg!
Einer von ihnen kommt näher. Nicht! Weg, bitte geh weg! Sein Gesicht ist so nah. Die Augen. So groß. So dunkel. Kann nicht wegsehen. Er starrt mich an. Starrt in mich hinein. Diese Augen. Saugen mich auf wie schwarze Löcher. So dunkel. So tief … Ich versinke …
Licht. Hell. Gleißend. Wie beim letzten Mal. Aber ich liege nicht. Kein Stahltisch. Ich stehe. Bin angezogen. Kaltes Metall unter meinen nackten Fußsohlen. Ich blinzele. Blinzele nochmal. Meine Sicht klärt sich.
Da sind sie. Es sind so viele. Sie reichen mir nicht mal bis zur Brust. Da ist auch der Tisch. Etwas liegt darauf. Nein. Es sitzt. Jemand. Jemand sitzt darauf. Jemand, der noch viel kleiner ist als sie .
Taubengraue glatte Haut. Ein birnenförmiger Kopf. Lippenloser Mund. Zwei schlitzförmige Nasenlöcher ohne Knorpel. Genau wie sie.
Aber die Augen … die sehen aus wie meine.
In dieser Geschichte wird in der Ich-Form erschreckend plastisch und nachfühlbar (soweit das überhaupt für Nichtbetroffene möglich ist) von einer Traumatisierung und ihren Folgen erzählt. Hier ist die Traumatisierung Folge einer Entführung durch Aliens und eines Eingriffs in den Körper der Protagonistin gegen ihren Willen, verbunden mit massiver Angst und Hilflosigkeit.
Auch ohne die Entführung Außerirdischer finden auf unserem Planeten tagtäglich Traumatisierungen statt, infolge von körperlichem und/oder sexuellem Missbrauch. Natürlich kann es noch weitere Ursachen von Traumatisierungen geben, wie schreckliche Unfälle, Kriegserlebnisse, Folter, Naturkatastrophen usw., bei denen das eigene oder das Leben nahestehender Personen oder die psychische und körperliche Unversehrtheit in Gefahr gesehen wurde.
Die ICD-10 vergibt beim Vorliegen typischer traumaspezifischer Symptome die Diagnose F43.1, die posttraumatische Belastungsstörung.
Traumaspezifische Symptome können verzögert, manchmal erst nach Monaten oder sogar Jahren auftreten. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind die sogenannten Flashbacks bekannt. Damit ist eine Form des Wiedererlebens gemeint, die so stark sein kann, dass die betroffene Person glaubt, das Trauma noch einmal zu erleben. Meist geht das mit massivem Angsterleben und starken körperlichen Reaktionen einher.
Auch Albträume sind häufig. Verdrängte Erinnerungen treten gegen den eigenen Willen trotzdem auf, man spricht von intrusiven Erinnerungen. All das zermürbt verständlicherweise. Es kann sein, dass Betroffene nicht mehr fähig sind, arbeiten zu gehen. Oft ziehen sie sich zurück, entwickeln depressive Symptome und einen düsteren Blick in die Zukunft.
Belastend ist auch eine Übererregung, Hypervigilanz genannt. Traumatisierte können sehr schreckhaft sein, als sei ihr Unterbewusstes ständig wachsam und fluchtbereit, so, als könnte jederzeit erneut eine Katastrophe hereinbrechen.
All diese Symptome und weitere sind bedrückend realistisch in der Story beschrieben, weshalb ich mir und dem Leser eine weitere Aufzählung erspare.

Michael Knabe: Elektrokrampftherapie
»Der Androide tut was? « Professor Doktor Sigmund Mauz zog überrascht die Brauen hoch.
Seine Assistentin, Doktor Meftaler, konsultierte mal wieder ihr Tab. »Er steht den lieben langen Tag vor dem Klo und drückt die Toilettenspülung, Herr Professor. Wenn seine Besitzerin nach dem Zubettgehen mal raus muss, kann sie anschließend nicht mehr schlafen, weil die restliche Nacht hindurch die Spülung rauscht.«
Und auf Doktor Mauz’ skeptischen Blick: »Ich habe mir das selbst einmal angesehen. Der Mülleimer ist bis zum Überlaufen gefüllt mit leeren Desinfektionsmittelflaschen. Die richtig harten, nicht das Zeug aus dem Drogeriemarkt. Die Wohnung riecht beißend nach Reinigungsmitteln, und er ordert ständig nach. Eine Zwangsstörung dieses Ausmaßes haben sogar die drüben in der Abteilung für Menschen eher selten.«
Die Meftaler ging also auf Hausbesuche, anstatt sich um die nächste Veröffentlichung in der Cybernetic Neuroscience zu kümmern? Er wartete schon seit Wochen auf ihren Artikel, auf dem an vorderster Stelle sein Name prangen sollte. Verfolgte sie auf einmal eigene Ziele, anstatt sich um seine Aufträge zu kümmern? Er würde sie ein wenig bremsen müssen. Mauz machte sich eine mentale Notiz, bevor er sich der Kyb-Einheit zuwandte, die reglos zwischen ihnen wartete.
»Kyb Tony!«
Der Androide wandte sich ihm zu. »Was kann ich für Sie tun, Herr Professor?« Seine Stimme klang voll und melodiös, wie die eines Nachrichtensprechers aus alter Zeit. Der Blick seiner metallischen Facettenaugen ruhte unverwandt auf Mauz.
Der rang sich ein Lächeln ab. »Weißt du, wer du bist, welches Datum wir heute haben und wo du dich befindest?«
»Ja, Herr Professor.« Und als Mauz lange genug schwieg: »Kyb-Einheit Tony. Es ist der vierte August 2034, elf Uhr sechzehn Mitteleuropäischer Zeit. Ich befinde mich auf der Station für klinische Kybernetik der Klinik für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie der Charité Berlin, Bonhoefferweg 78 …«
Читать дальше