1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Eine Klarheit bringende diagnostische Befragung des Patienten Häwelmann ist uns leider nicht möglich, ebenso nicht, Rückschlüsse aus weiteren Beobachtungen seines Verhaltens zu ziehen oder Auffälligkeiten in der Interaktion mit ihm zu erkennen. Insofern stehen uns Psychotherapeuten, Psychiatern etc. im Behandlungszimmer deutlich bessere Möglichkeiten einer verlässlichen Diagnostik zur Verfügung.
Monika Niehaus, die Autorin von »Der Fall Häwelmann«, verfolgte den Entstehungsprozess dieses diagnostischen Kommentars. »Mon dieu, was habe ich dir und euch mit dem Häwelmann angetan! Für mich stand die literarische Figur, die Story, im Vordergrund.
Über die Art der Störung habe ich mir keine näheren Gedanken gemacht. Und jetzt habt ihr den Salat! Ich finde es übrigens positiv, einen solchen Fall zu diskutieren und damit zu belegen , dass das menschliche Gehirn, das bislang komplexeste Organ im ganzen Universum, widersprüchlich ist und manchmal in keine Schublade passt – und dass gerade bei den wenigen zur Verfügung stehenden Symptomen mehrere Möglichkeiten denkbar sind.
Viel Misstrauen erregender finde ich zu große Sicherheit …«

Isabell Hemmrich: Ein ganz normaler Tag
Ich liege auf dem kalten Stahltisch. Ich bin nackt. Ich kann mich nicht bewegen. Sie sind da, um mich herum. Ich spüre ihre Anwesenheit, aber ich kann sie nicht sehen. Die Lampe blendet mich. Ich blinzele. Eine Träne rinnt mir aus dem Augenwinkel, läuft an der Schläfe hinab. Das Salz brennt auf meiner Haut, aber ich kann mich nicht kratzen.
Das passiert gar nicht wirklich , sage ich mir. Du träumst. Du musst nur aufwachen und alles ist wieder gut. Als könne er meine Gedanken lesen, fasst einer von ihnen nach meinem Kopf. Kann er meine Gedanken lesen?
Ich spüre die ledrige Haut an meiner Stirn. Sie ist viel zu warm, wie bei einem Menschen, der hohes Fieber hat. Und eigenartig weich und nachgiebig. Wie Gelatine. Als säßen keine Knochen unter der Oberfläche. Unmöglich, sich sowas einzubilden. Ich träume nicht. Das hier passiert wirklich.
Noch mehr Hände. An meinem Bauch. Auf meinen Brüsten. Zwischen meinen Beinen. Sie betasten mich, aber nicht auf die Art. Nicht, wie es ein Mann tun würde. Ein Liebhaber. Oder ein Triebtäter. Eher wie ein Arzt. Routiniert. Zielstrebig. Emotionslos.
Die Lampe wird gedreht. Jetzt kann ich die Umrisse ihrer Köpfe sehen. Diese seltsam aufgeblähten, birnenförmigen Köpfe mit den riesigen Augen. Insektenaugen, wie schillernde Discokugeln. Einer nähert sich meinem Unterleib. Er hat etwas in der Hand. Die Hand ist viel zu schmal.
Ich sehe das Aufblitzen der Nadel. Nein! Bitte nicht! Bitte, bitte, bitte, ich will jetzt aufwachen! Die Hohlspritze durchsticht meine Bauchdecke. Es tut so weh! Immer tiefer dringt der Fremdkörper in meinen Nabel ein. Es brennt wie Feuer. Scharfes, kaltes Feuer. Mir wird schlecht. Ich muss mich übergeben. Jetzt … wird … alles … schwarz …
Ich setze mich auf. Mein Puls rast, mein Herz hämmert schmerzhaft schnell gegen meine Rippen. Ich bin in Schweiß gebadet. Meine Brust ist ganz eng. Ich weiß zwar, dass ich jetzt wach bin, aber der Albtraum hält mich immer noch in seinen Klauen. Nein, kein Albtraum. Die Erinnerung. O Gott, hört das denn nie auf?
Jede verdammte Nacht dasselbe. Jede Nacht die gleiche Angst, die gleiche Hilflosigkeit, der gleiche Schmerz. Genau wie damals. Ich erleide alle Qualen erneut. Immer wieder.
Bestimmt sind die Schlaftabletten schuld daran, dass ich nicht eher aufwache. Aber ohne das Lendormin würde ich gar nicht schlafen. Es dauert jetzt sowieso immer länger, bis die Tablette wirkt. Wenn sie wirkt.
Am Anfang war eine halbe genug, dann eine ganze. Jetzt bin ich froh, wenn ich nach eineinhalb Tabletten ein paar Stunden Ruhe finde. Wobei – was heißt hier Ruhe? Im Schlaf durchlebe ich erneut, was die mir angetan haben. Jede. Verdammte. Nacht.
Ich schaue auf die Leuchtziffern des Digitalweckers: 4:37 Uhr. Scheiße. Noch nicht mal fünf Uhr morgens. Wie lange habe ich geschlafen? Um Mitternacht war ich noch wach, um 0:46 Uhr auch noch. Da habe ich das letzte Mal nach der Zeit gesehen. Vielleicht bin ich gegen eins eingeschlafen. Nicht mal vier Stunden!
Bald ist das letzte Zehnerpäckchen leer, was mache ich dann? Doktor Meier schreibt mir nicht schon wieder welche auf. Und die Rezeptfreien aus der Apotheke wirken nicht. Davon bekomme ich nur so ein ekelhaftes, taubes Gefühl in den Gliedmaßen. Die schmecken auch so bitter, dass ich sie kaum runterkriege.
Die Lendormin sind geschmacksneutral, fast ein bisschen süßlich. Wenn ich die jemandem in den Drink mischen würde, würde der das garantiert nicht merken. Eine Eins-a-Vergewaltigungsdroge sozusagen.
Ich hatte immer Angst vor Rohypnol-Panschern, hab mein Glas nie aus den Augen gelassen. Hat mir aber auch nix gebracht. Jetzt wär’s mir auch egal. Aber ich gehe ohnehin nicht mehr aus.
Mein Herz hat sich jetzt einigermaßen beruhigt, aber ich spüre immer noch diesen Druck auf der Brust, diese Beklemmung. Ich muss pinkeln. Im Wohnzimmer flimmert der Fernsehbildschirm.
Mein Nachthemd klebt mir am Körper. Ich ziehe es hoch, um meinen Bauch zu betrachten. Warum der Nabel? Damit man hinterher keine Narben sieht? Ich spüre ganz genau, wo die Nadel in mich eingedrungen ist. Mein Fleisch erinnert sich. Ich frage mich, ob man etwas erkennen könnte. Auf dem Ultraschall. Beim Röntgen. Oder sorgen sie dafür, dass keine Beweise zurückbleiben?
Ich habe nie versucht, es herauszufinden. Was soll ich der Ärztin sagen? Ich wurde von Aliens entführt, würden Sie bitte mal nachsehen, ob die außerirdische Kanüle, die sie mir in den Bauch gejagt haben, einen Stichkanal hinterlassen hat? Nächste Ausfahrt Klapse. So blöd bin ich nicht.
Ich kauere mich über die Schüssel und versuche, irgendwie mit dem Urinstrahl zu treffen, ohne eine Riesensauerei anzurichten. Zum Glück habe ich Übung darin. Trotzdem beneide ich die Männer. Der Toilettensitz ist so kalt auf der Haut. So kalt wie der Metalltisch. Ich will das nicht wieder spüren. Nie mehr.
Die Ringe unter meinen Augen sind so dunkel, dass man meinen könnte, ich hätte mich geprügelt. Die übrige Haut ist dafür umso bleicher. Meine Augen waren früher mal haselnussbraun. Jetzt ist die Iris so stumpf, dass die Farbe an vertrockneten Hundekot erinnert. Ekelhaft.
Ich spucke die Zahnpasta aus und spüle mit Wasser nach. Vielleicht sollte ich nochmal zu Doktor Özogul gehen. Der war immer so nett. So wie ich aussehe, nimmt der mir meine Schlafprobleme auch garantiert ab. Natürlich sage ich ihm nicht, warum ich nicht schlafen kann. Vielleicht sage ich, mein Freund hat mich verlassen. Oder, dass mein Vater gestorben ist. Kann der das irgendwie nachprüfen?
Ich darf nur nicht zu gierig rüberkommen. Eher widerwillig. Ja, wenn Sie meinen, dann versuche ich es halt mit Tabletten. So in der Art.
Jetzt erstmal Kaffee. Ich gebe doppelt so viel Pulver in die Tasse wie empfohlen. Werfe drei Zuckerwürfel hinterher. Das brodelnde Wasser verbindet beides in Sekundenschnelle zu einer unauflöslichen Einheit. Wenn ich überhaupt noch irgendwas genießen kann, dann das Gefühl, wie die dunkle, heiße Brühe durch meine Speiseröhre schwappt und sich das Koffein in meinen Nervenbahnen verteilt.
Ohne dieses allmorgendliche Ritual wäre ich zu überhaupt nichts mehr fähig. Manchmal gönne ich mir am Nachmittag eine zweite Dosis. Aber das geht nicht zu oft, weil ich sonst Herzrasen kriege. Und Sodbrennen. Essen kann ich jetzt noch nichts. Dafür liegt mir die Nacht noch zu sehr im Magen.
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