Chronisten zufolge flohen die Sachsen 775 bei der Sigiburg nahe Dortmund vor dem Heer Karls des Großen, weil sie zwei fliegende, feurige Schilde am Himmel sahen.
Ich muss weiterschreiben. Arbeiten. Geld verdienen. Ich habe verdammtes Glück, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann. Nicht auszudenken, wenn ich mich jeden Tag ins Büro schleppen müsste. Aber ich kann mich so schlecht konzentrieren.
Doktor Meier hat mir Übungen empfohlen. Massenhaft Übungen: Über-Kreuz-Übungen, um das Zusammenspiel der Hirnhälften zu fördern. Meditationsübungen, um den präfrontalen Cortex zu stärken. Auf-dem-Kopf-Lesen. Spiegelverkehrt schreiben. In einer Fremdsprache denken. I was abducted by aliens and now my life is totally fucked up.
Nutzen Sie Ihren Aufenthalt im Hotel Rheingold , um auf Richard Wagners Spuren zu wandeln. Der Walk of Wagner führt Sie auf Ihrem Weg von der Villa Wahnfried zum Festspielhaus zu authentischen Wagner-Stätten … Der Walk of Wagner beginnt an Richard Wagners ehemaligem Wohnhaus, der Villa Wahnfried , in der das renommierte Richard-Wagner-Museum … Zu viel Wagner. Auf dem Walk of Wagner erwarten Sie Plastiken des renommierten Bildhauers Ottmar Hörl … Ach, scheiße!
Wen interessiert das denn? Meine Schädeldecke zerspringt gleich. Ich brauche ein Aspirin. Besser gleich zwei oder drei. Wird meinem Magen nicht gerade guttun, aber was soll’s? Schlucke ich halt nachher noch ein Rennie.
Mysteriöse Kreatur am Strand angespült. Ein See-Alien? Nein, das Ding, das da am australischen Leighton Beach angeschwemmt wurde, ist keiner von denen. So sehen sie nicht aus. Das ist nur eine verweste Robbe, von der die Fische ein paar Teile abgebissen haben.
Schon komisch: Seit den Vierzigerjahren sehen die Leute überall Außerirdische. Roswell. Der Gorman Dogfight. Betty und Barney Hill. Dann natürlich die Filme: Kampf der Welten . Unheimliche Begegnung der dritten Art . E. T. Muss wohl irgendwie einen Nerv getroffen haben, das Thema.
Erst Filme. Dann Fernsehserien. Star Trek . Akte X . Nicht zu vergessen: das Merchandising. Massenhaft liebenswert-niedliche oder abstoßend-grässliche Alien-Püppchen zum In-die-Vitrine-Stellen. Gummimasken mit riesigen schwarzen Augen. Zum Kotzen! Wenn die wüssten, wie es sich anfühlt, von solchen Augen angestarrt zu werden. Wie sie sich einem in die Seele bohren und man jegliche Kontrolle …
Außerirdische sind überall. In den Schaufenstern. Im TV. Auf T-Shirts. In Büchern. Es gibt Fachzeitschriften über Präastronautik und kleine Plastikfiguren mit winzigen Organen zum Autopsie-Spielen fürs Kinderzimmer. Sie stieren einem von graffitibeschmierten U-Bahn-Tunnels und Baseballmützen entgegen. Aber keiner glaubt an sie. Nur diese Spinner aus den Foren. Und ich.
Gibt es in Australien überhaupt Robben? Mal googeln. Australische Tierwelt. 15 Tiere, die es sonst nur in Zoos gibt. Koalas. Kängurus. Klar, kennt jeder. Gefährliche Tiere in Australien. Brown snakes. Würfelquallen. Angst vor Spinnen und Insekten? Sydney-Trichternetzspinne. Gespenstschrecke. Australische Riesenmantis …
O Gott! Diese Augen! Eine grüne Gottesanbeterin. Auch die Augen mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen sind grün. Aber sonst … Genau wie bei ihnen . Riesige Insektenaugen, seelenlos, gefühllos – o Scheiße! Mir wird schlecht. So schlecht … Krieg keine Luft mehr. So übel … Kann nicht atmen … O Gott!
Ich sehe meinen Laptop. Den Schreibtisch. Die Topfpflanze. Ich höre das Summen des Modems. Das Ticken der Wanduhr. Die Fernsehstimmen im Hintergrund. Ich spüre die Tischplatte unter meinen Händen. Die Sessellehne im Rücken. Den Boden unter den Füßen.
Ich sehe den Bildschirm. Ich sehe die Topfpflanze, eine Grünlilie. Ich höre ein Auto unten auf der Straße. Die Wanduhr. Ich spüre die Maserung der Schreibtischplatte unter den Fingerspitzen. Den Stoffbezug der Armstützen an den Ellenbogen. Ich sehe meine leere Kaffeetasse. Ich höre, wie jemand hupt. Ich spüre das glatte Porzellan der Tasse in meiner Handfläche.
5–4–3–2–1 . Hat mir Doktor Meier beigebracht. Eine Stabilisierungstechnik für Traumatisierte: bewusste Wahrnehmung der Außenwelt, um dem Abdriften in Flashbacks entgegenzusteuern, sich durch die Konzentration auf unmittelbare Sinneseindrücke wieder in der Gegenwart zu verankern. Reorientierung, wie Meier dazu sagt.
Es hilft. Ich kann wieder atmen. Bin wieder im Hier und Jetzt. Nicht mehr bei denen . Langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder. Ein klein wenig zumindest. Meine Hände sind schweißnass. Ich wische sie an meiner Hose trocken. Fühle den Jeansstoff unter den Handballen. Rau. Vertraut. Gut.
Die Nächte sind schlimm. Aber die Flashbacks sind die Hölle. Warum tun die mir das an? Kranke kleine graue Wichser. Ich hasse sie. Auserwählt – am Arsch!
Mich hasse ich auch. Meinen Körper. So hilflos. Nutzlos. Wertlos. Konnte mich nicht bewegen. Die haben mich angefasst. Überall. Ich bin besudelt. Dreckig. Ich würde mir am liebsten die Haut abziehen. Abziehen und verbrennen.
Es tut mir leid. Doktor Meier sagt, ich soll lieb zu mir sein. Meine Haut kann nichts dafür. Mein Körper ist nicht schuld an dem, was die mit ihm gemacht haben. Ich bin nicht schuld. Ich bin unschuldig . Ich kann nichts dafür. Ich kann überhaupt nichts dafür, verdammt. Ich weiß das. Aber ich hasse mich trotzdem.
Und ich schäme mich so. Das vor allem. Es ist eine Sache, zu wissen , dass die Scham unbegründet ist. Natürlich weiß ich das. Ich. Konnte. Nichts. Dafür . Eine andere Sache aber, eine ganz andere, ist es, das auch zu fühlen .
Die haben mich erniedrigt. Gedemütigt. Benutzt haben sie mich. Die haben mich benutzt! Nicht als Sexualobjekt, wie etwas Begehrenswertes, sondern wie … wie Vieh . Als Laborratte. Die haben mich nicht als Mensch wahrgenommen. Oder doch? Sind wir Menschen für sie das, was für uns Labortiere sind? Dann gnade Gott uns allen.
Nach den Flashbacks bin ich immer hellwach. Das Adrenalin schießt noch durch meine Adern, putscht mich auf. Mein Puls ist zu schnell. Hat mir auch Doktor Meier gezeigt: Pulsmessen.
Ist gar nicht so einfach wie in den Filmen. Ich habe meine Finger früher mittig auf die Pulsadern gepresst. Dabei muss man unterhalb des Daumens fühlen. Arteria radialis. Nicht zu fest drücken. Dann dreißig Sekunden lang zählen. Dabei komme ich oft raus. Anschließend mal zwei und das ergibt den Puls pro Minute. Siebenundsechzig Schläge habe ich gezählt, mal zwei … hundertvierunddreißig.
Ich muss mich beruhigen. Ich gehe zum Fenster. Öffne es. Schaue runter auf die Straße. Die parkenden Autos. Eine Frau führt ihren Hund Gassi. Ein Shih-Tzu. Oder ein Havaneser. So was Wuscheliges halt. Pinkelt an die Laterne. Der Hund, nicht die Frau. Haha. Ich kann ja richtig witzig sein. Dann ist ja alles nur halb so schlimm, oder?
Die Luft ist angenehm kühl. Klärt meine Gedanken. Ich wüsste gern, ob das irgendwann aufhört. Nicht nur die Flashbacks. Nicht nur dieser Ekel vor mir selbst. Das alles. Die durchwachten Nächte. Die Konzentrationsschwäche. Die ganze unnütze Grübelei. Grübele ich gerade darüber nach, ob die Grübelei aufhört?
Ich frage mich, ob ich mich jemals wieder auf eine Toilette setzen kann. Oder mich im Winter am Treppengeländer der U-Bahn-Unterführung festhalten. Vermeidungsstrategie nennt man das, was ich mache beziehungsweise nicht mache. Habe ich gelesen. Doktor Meier kann ich ja nichts davon erzählen. Von dem Metalltisch. Verträgt sich nicht mit der Böser-Onkel-Story.
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