Sicherlich ist es sehr schwierig und kompliziert, die negativen Auswirkungen der digitalen Technologien auf unser tägliches Leben konkret und unmittelbar zu messen. Viele werden nicht durch die Technologie selbst verursacht, so wie dies bei früheren Innovationsschüben der Fall war (wie bei einem Auto, das Kohlenstoffmonoxid erzeugt und die Atmosphäre in einer Weise beeinflusst, die wir objektiv messen können). Vielmehr handelt es sich bei diesen Effekten oft um komplexe Veränderungen im menschlichen Verhalten, die durch die digitale Technologie hervorgerufen werden (wir hören auf, an Fakten zu glauben; unsere Aufmerksamkeitsspanne nimmt ab), oder um sekundäre Effekte (Anstieg der Mieten für Einheimische aufgrund des Anstiegs von Kurzzeitvermietungen an Touristen).
Diese Intransparenz wird noch verstärkt durch:
die gewaltigen Ausmaße und die entstandenen Netzwerkeffekte, die es erschweren, die Auswirkungen auf Millionen von Menschen zu verfolgen.
die Weigerung der Tech‐Giganten, Daten offenzulegen: Wir können nicht sagen, wie viele Menschen sich gegen eine Impfung ihrer Kinder entschieden haben, weil sie falschen Behauptungen über die Nebenwirkungen von Impfstoffen vertraut haben. Wir wissen nicht wirklich, wie sehr sich die Verkehrssituation verschlechtert hat, da Uber und Lyft uns nicht sagen wollen, wie viele ihrer Autos zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Straße waren.
das Fehlen von Ethikkommissionen (wie die an Universitäten) zur Überprüfung von tech‐basierten Verhaltensexperimenten. Ein paar Entwickler können sich jederzeit dazu entscheiden, beliebige Tests durchzuführen. Sie ändern ein paar Zeilen Code und können sofort damit experimentieren. »Im Gegensatz zu akademischen Sozialwissenschaftlern haben Facebook‐Mitarbeiter einen kurzen Weg von einer Idee bis zu einem Experiment an Hunderten von Millionen Menschen«, heißt es in einem Mitarbeiterprofil des Datenteams von Facebook. 13
Die Dimension der Tech‐Riesen basiert darauf, dass ein bestimmtes Sortiment an Waren und Dienstleistungen einer nahezu unendlichen Anzahl neuer Kunden angeboten werden kann – und das zu Grenzkosten, die oft nahe Null liegen. Zusammen mit den Vernetzungseffekten, von denen Big Tech profitiert – was bedeutet, dass man nur wenige Alternativen zu den Plattformen hat, die von all den Freunden und Familienmitgliedern genutzt werden –, führt dies zu Beinahe‐Monopolen, rasantem Wachstum und Gewinnen sowie einer konkurrenzlosen politischen Macht.
Wir leben in einer Zeit des historischen, exponentiellen Wachstums und Wandels. Das Beste, was wir in naher Zukunft tun können, ist bewusst die Auswirkungen der digitalen Technologien wahrnehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen. So vieles der digitalen Technologien, die unsere Welt regieren, ist undurchsichtig, verborgen in geheimen Algorithmen und undurchdringlichem Code – wie viele andere Black Boxes auch. Der Unterschied ist, dass in diesen Kisten Menschen sitzen und den Code schreiben. Und Menschen, die sie führen.
Ich behaupte nicht, dass alles verloren ist. Ich vertrete stattdessen leidenschaftlich die Auffassung, dass die digitalen Technologien weiterentwickelt werden müssen, nicht nur zum Wohle der Allgemeinheit, sondern auch weil es wirtschaftlich sinnvoll ist. Wir sollten weiterhin das Optimum aus den digitalen Technologien ziehen, allerdings ohne dystopische Konsequenzen, die vermieden oder zumindest minimiert werden müssen. Lassen Sie uns die Kisten also öffnen. Sie sind, meistens jedenfalls, nicht schwarz. Vielfach sind sie recht glasig, luftig und befinden sich in der Nähe der San Francisco Bay und anderer Tech‐Zentren. Sie sind von einer Blase umgeben, die die Kultur im Inneren vom Rest der Welt abschneidet.
1 1OECD Economic 2017, https://read.oecd-ilibrary.org/science-and-technology/oecd-digital-economy-outlook-2017_9789264276284-en
2 2Michael Minges, Exploring the Relationship Between Broadband an Economic Growth, http://pubdocs.worldbank.org/en/391452529895999/WDR16-BP-Exploring-the-Relationship-between-Broadband-and-Economic-Growth-Minges.pdf
3 3Macy Bayer, 3D printing community fighting coronavirus by making crucial medical parts, TechRepublic, 3. April 2020, https://www.techrepublic.com/article/how-3d-printing-can-be-used-for-coronavirus-testing-kits-masks-and-ventilator-parts/
4 4Office for National Statistics, Past and projected period and cohort life tables, 2018‐based, UK: 1981 bis 2068, 2. Dezember 2019, https://www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommunity/birthsdeathsandmarriages/lifeexpectancies/bulletins/pastandprojecteddatafromtheperiodandcohortlifetables/1981to2068
5 5Jane Wakefield, Artificial intelligence‐created medicine to be used on humans for first time, BBC, 30. Januar 2020, https://www.bbc.com/news/technology-51315462
6 6 https://livinggoods.org/what-we-do/results-evidence-and-research/research-initiatives/
7 7Dhawal Shah, By the Numbers: MOOCs in 2019, Class Central, 2. Dezember 2019, https://www.classcentral.com/report/mooc-stats-2019/
8 8Nathan Ochunge, US Government extends funding for Tusome program, The Standard, 8. September 2019, https://www.standardmedia.co.ke/education/article/2001341132/us-government-extends-funding-for-tusome-programme
9 9In poor countries technology can make big improvements to education, The Economist, 17. November 2018, https://www.economist.com/international/2018/11/17/in-poor-countries-technology-can-make-big-improvements-to-education
10 10Stefan Dercon, Is technology key to improving global health and education, or just an expensive distraction?, World Economic Forum, 31. Mai 2019, https://www.weforum.org/agenda/2019/05/technology-health-education-developing-countries/
11 11Casey Newton, The Verge Tech Survey 2020, The Verge, 2. März 2020, https://www.theverge.com/2020/3/2/21144680/verge-tech-survey-2020-trust-privacy-security-facebook-amazon-google-apple
12 12William Davidow, Forget STEM, Study Sociology, LinkedIn, 22.Juni 2020, https://www.linkedin.com/pulse/forget-stem-study-sociology-william-davidow/
13 13Kashmir Hill, Facebook Manipulated 689003 Users Emotions for Science, Forbes, 28. Juni 2014, https://www.forbes.com/sites/kashmirhill/2014/06/28/facebook-manipulated-689003-users-emotions-for-science
Bei einer Führung am Hauptsitz eines Tech-Riesen im Silicon Valley wurde ich begleitet von einem Kombucha-schlürfenden Senior Engineer, der wahrscheinlich ein jährliches Einkommen von mehreren Millionen Dollar (einschließlich Aktienoptionen) hat. Als wir an einer Büroküche vorbeikamen, deren Menge an Süßigkeiten es durchaus mit Charlie und die Schokoladenfabrik aufnehmen konnte, nahm unser Gespräch eine sehr seltsame Wendung. Er erklärte mir allen Ernstes, die über 30 verschiedenen, dort verfügbaren Snacks würden ihn »dick machen«. Als wir etwas später an einer der diversen Cafeterien auf dem Campus entlanggingen, sagte er mir ohne einen Hauch von Selbstreflexion, dass die vom Küchenchef in Restaurantqualität zubereiteten Mahlzeiten – ganztägig bis spät in den Abend auf Abruf verfügbar – »ein wenig eintönig seien«. Danach wechselte er das Thema.
Am meisten betroffen gemacht hat mich die unbekümmerte Wegwerfmentalität hinter diesen Aussagen – geäußert im Epizentrum der weltweiten Tech-Branche. Nur ein paar Blocks entfernt von Menschen, die nicht wissen, ob sie an diesem Tag überhaupt etwas zu Essen haben werden, in Bezirken, in denen erschütternde 27 Prozent der Bevölkerung in einer Studie als »nahrungsmittelunsicher« 1 eingruppiert wurden. Sein gefühltes Recht auf kostenlose Süßigkeiten, Kartoffelchips und Gourmetspeisen war so unverfroren, dass er glaubte, sich darüber beschweren zu müssen (was, wie ich leider feststellen musste, bei Menschen, die noch nie ein anderes Arbeitsumfeld erlebt haben, recht häufig vorkommt). Im Laufe der Jahre als Führungskraft in der Tech-Branche sind mir ähnlich respektlose Klagen zu den befremdlichsten Themen begegnet, vom »Stresstest für den Bauchumfang« durch »Frozen Yogurt«-Flatrates über den »überfüllten Meditationsraum« bis hin zu der Frage, warum die diesjährige Gehaltserhöhung »nur« bei 10 Prozent läge (in einer Branche, in der das mittlere Gehalt bereits bei etwa 200 000 Dollar liegt). 2 Es gibt sicherlich wenig, was den Unterschied zwischen dem »Leben im Schlaraffenland« der Angestellten vieler Tech-Einhörner (und tatsächlich auch kleinerer Firmen) und dem der großen Mehrheit noch deutlicher veranschaulichen könnte.
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