Ab 1957 gibt es meist ein oder zwei maschinenschriftliche Entwürfe, gefolgt von einer Reinschrift mit mehreren Durchschlägen. Bei den Texten des sogenannten Spätwerks, also den als fotomechanische Wiedergabe des Typoskripts erschienenen Romanen »Zettel’s Traum«, »Schule der Atheisten«, »Abend mit Goldrand«, bildet sogar die erste Typoskript-Niederschrift mit handschriftlichen Korrekturen zugleich die Endfassung des Textes. 3Für Zeitungsartikel und Rundfunksendungen sind manchmal mehrere leicht voneinander abweichende Fassungen vorhanden, da die Texte bei erneuter Verwendung gelegentlich überarbeitet oder gekürzt wurden. Insgesamt ist es nicht schwierig, die Zeugen einzelnen Texten zuzuordnen, sodass Arno Schmidts Manuskriptbestand nach seinem Tode übersichtlich vorgefunden wurde. 4Das führte dazu, dass bisher keine digitale Erschließung des Textarchivs in einer Datenbank vorgenommen wurde, da alle Mitarbeiterinnen mit der Zettelkartei, die bei der ersten Aufnahme angefertigt wurde, problemlos arbeiten können.
Ein besonderer Bestand innerhalb des literarischen Nachlasses sind bekanntlich Arno Schmidts Zettelkästen. Erhalten haben sich aber ›nur‹ acht Kästen zu »Zettel’s Traum«, einer zu »Abend mit Goldrand« und einer zum letzten, nicht vollendeten Roman »Julia, oder die Gemälde« sowie kleinere vermischte Zettelsammlungen. Dieser Bestand ist nur zum Teil detailliert erschlossen. 5
Schwieriger ist es mit den Lebenszeugnissen und den dreidimensionalen Objekten – da Arno Schmidts Nachlass in Bargfeld in seinem Haus und dem von ihm gebauten Archiv verblieb, gab es keinen Anlass, Objekte oder Dokumente zu kassieren; es hatte alles (s)einen Platz. Erschlossen und katalogisiert wurde neben dem schriftstellerischen Manuskriptnachlass zuerst die Bibliothek, 6rund fünfzehn Jahre später dann das Fotoarchiv, dessen Bestände Schmidt als überraschend guten Fotografen zeigen. Kurz danach folgte die Katalogisierung der Grafiksammlung, noch später die Aufnahme der Textilien im Nachlass, ebenfalls ein sehr umfangreicher Bestand.
Was zeigt sich in dieser Priorisierung? Natürlich ist der schriftstellerische Nachlass eines Autors das Wichtigste, außerdem waren die Aufnahme, Verzeichnung und Ordnung dieses Bestandes unerlässliche Voraussetzung für die Arbeit an der Werkausgabe, deren erster Band bereits sechs Jahre nach dem Tod des Autors erschien. Dass darauf die Aufnahme der Bibliothek folgte, ist Schmidts Ruf als Zitiermeister unter den Autoren geschuldet. Forscher und Leser wollten und sollten einfach wissen, was der Autor gelesen hatte (wobei die in Bargfeld erhaltene Privatbibliothek darüber nur begrenzt Auskunft gibt, was gern vergessen wird). Die Fotos, über 2000 Dias und Hunderte Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Arno und Alice Schmidt, wurden schon vor ihrer Katalogisierung genutzt. Autorenporträts wurden für zahlreiche Veröffentlichungen gebraucht, während ›schöne‹ Landschaftsaufnahmen zum Beispiel als Titelbilder für die Taschenbuchausgaben der Werke Schmidts Verwendung fanden. Dieser Bestand war frühzeitig durch Duplizierung der Negative und professionelle Abzüge gesichert worden; mit einer Datenbank und Digitalisaten erschlossen wurde er jedoch erst ab 2008, als der Fotohistoriker Janos Frecot ihn gesichtet hatte, auch aus fotografiehistorischer Sicht erhaltenswürdig fand und eine Wanderausstellung mit ausgewählten Landschaftsaufnahmen Arno Schmidts kuratiert hatte. 7Hier hatte sich also die Wahrnehmung des Bestands geändert, er erschien zwanzig Jahre nach Schmidts Tod bedeutender als zu Beginn der Archivarbeit.
Die von Arno und Alice Schmidt gesammelte Grafik wurde ab 2010 vom Kunsthistoriker Ole Wittmann in einer Datenbank erschlossen. Obwohl sie über lange Jahre materiellen Einschränkungen unterlagen, hatten Schmidts als Mitglieder der Griffelkunst-Vereinigung 90 Grafiken erworben; insgesamt weist die Datenbank über 500 gesammelte Stücke vom Druck bis zum Gemälde aus. Auch wenn das lebensgeschichtlich bemerkenswert ist, spielt es für Arno Schmidts Bedeutung als Schriftsteller keine große Rolle. Denn obwohl einige dieser Bilder in seinem Werk vorkommen, muss die Sammlung eher als Teil des Privatlebens gelten. Oder? Lassen sich die verschiedenen Sphären überhaupt unterscheiden? Was ist mit Schmidts Freundschaft zum Maler Eberhard Schlotter, die immerhin zum gemeinsamen künstlerischen Projekt »Das zweite Programm« führte; was mit den knapp 300 Arbeiten von Schlotter in Schmidts Nachlass? Die Entscheidung zur Katalogisierung des Bestands ging dennoch eher auf die Einsicht zurück, dass eine Kunstsammlung in einem Archiv nicht ungeordnet und unerschlossen aufbewahrt werden sollte, und nicht auf ein vermutetes Forschungsdesiderat zu Schmidts Verhältnis zu den Bildenden Künsten.
Der textile Nachlass wurde auf Anregung des Celler Museumsverbunds erst ab 2011 von der Textilhistorikerin Gisela Soltkahn inventarisiert. Die über 1000 Stücke stammen aus der Zeit zwischen 1930 und 1983. Diese umfangreiche Sammlung von Alltagsbekleidung ›kleiner Leute‹ ist wegen ihrer Vollständigkeit wohl einmalig, und gewinnt deshalb eine textilgeschichtliche Bedeutung, die zuvor niemand vermutet hatte. Das hat nun gar nichts mehr mit Schmidts Autorschaft zu tun, oder nur insofern, dass wegen der Einrichtung der räumlich großzügigen Gedenkstätte niemand die Entscheidung treffen musste, die Kleidung des Paares zu entsorgen. Sie blieb einfach vor Ort (wie auch die Einmachgläser im Keller), ohne dass der Bestand besonders betreut worden wäre, ehe Gisela Soltkahn die textilhistorische Bedeutung der Sammlung erkannte.
Erstaunen mag, dass es kein Inventar des Arno-Schmidt-Hauses gibt, also der eigentlichen Gedenkstätte, in dem alle im Haus gezeigten Möbel und Gegenstände verzeichnet wären. Abgesehen davon, dass die schiere Menge – wir sprechen immerhin von einem ganzen Haushalt – einen großen Aufwand verursacht hätte, wurde ein Inventar für die Arbeit der Stiftung nie als Desiderat empfunden. Alle Objekte werden innerhalb des Hauses und des noch zu Lebzeiten Arno Schmidts erbauten Archivs aufbewahrt. Es gibt kein weiteres Depot und kaum Leihverkehr, weder Zukäufe noch Abgänge. Deshalb wurde ein Inventar niemals vermisst, ebenso wenig übrigens wie ein Verzeichnis des Briefbestands, weil alle vorhandenen Briefe von und an Schmidts in Kopien im Büro jederzeit für die Arbeit zur Hand sind.
An den Rändern des Schriftsteller-Archivs lagert Material, das nicht unmittelbar zum literarischen Nachlass gehört und dennoch mehr über den Autor aussagt als andere, vermeintlich wichtigere Objekte. 8Einiges davon lässt sich zwar bequem katalogisieren, gibt aber dennoch Rätsel auf: zum Beispiel die selbstgezeichneten Kalender der Schmidts, Resultat eines liebevoll gestalteten Privatkosmos voller »Kalenderherren«, deren Zuordnung zu den einzelnen Monaten ausgewürfelt wurde. Jeder Monat wurde von Schmidts mit einer sorgfältig gezeichneten Vignette der jeweiligen Kalenderherren geschmückt. Mit Hilfe eines Punktesystems zur Bewertung von Lebensereignissen, das bisher nicht rekonstruiert werden konnte, wurde in jedem Jahr der ›Sieger‹ unter den Monaten ermittelt. Diese Bögen – ein ganzes Jahr passt in der Regel auf ein größeres Blatt – haben es bis in eine Kunstausstellung geschafft, 9weil es reizvolle Objekte sind, ohne dass ihr Geheimnis entschlüsselt worden wäre. Zum Verständnis des Werks trugen sie bisher nichts bei, zur Erkenntnis über das Leben des Ehepaars Schmidt höchstens etwas wie ›äußerst merkwürdig‹. Dennoch käme niemand auf die Idee, sie zu entsorgen, denn allein ihre Existenz genügt, um sie für relevant zu halten. Ein anderes Konvolut umfasst Zeichnungen und Entwürfe für Gebrauchsgegenstände – auch nichts, was man bei einem Schriftsteller unbedingt erwarten würde; wohl aber passen die Entwürfe zu einem gelernten Autodidakten wie Schmidt, der sich mit vielem beschäftigte und sich vieles zutraute. 10
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