Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv
Herausgegeben von Michael Töteberg und Alexandra Vasa
TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. SONDERBAND
Begründet von Heinz Ludwig Arnold
Redaktion:
Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96
Print ISBN 978-3-96707-429-1
E-ISBN 978-3-96707-431-4
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Axel Ruckaberle
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de
Michael Töteberg
Ein Gang durchs Archiv
Katrin von Boltenstern
»Niemals Germanisten ranlassen«. Problematiken der Arbeit mit literarischen Nachlässen
Michael Schwarz Adorno und die Archivierung des Ephemeren. Bemerkungen zu seinem Nachlass
Susanne Fischer Reste und Ränder. »Nichtiges Zeug« im Nachlass-Archiv Arno Schmidts
Thomas Ehrsam Vom Suchen und vom Finden. Erfahrungen in Nachlassarchiven
Holger Helbig / Katja Leuchtenberger / Antje Pautzke Kann ich das sehen? Über Aufmerksamkeit und Ordnung im Umgang mit dem Uwe Johnson-Archiv
Stephan Lesker »Das Archiv ist nutzlos, wenn wir es nicht auswerten«. Walter Kempowski öffnet sein Archiv
Alexandra Vasa Aus dem Archiv. Die Transformation von Dokumenten in der literarischen Fiktion
Sabine Wolf »Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen«. Archiv und Schreiben: Christa Wolf
Birgit Dahlke Autor*innenbibliothek als Archiv? Die Privatbibliothek von Christa und Gerhard Wolf an der Humboldt-Universität Berlin
Franziska Galek DDR-Verlagsarchive – alles nur Zensur? Einblicke in das Archiv des Henschelverlags Kunst und Gesellschaft im Literaturarchiv der Akademie der Künste
Christoph Hilse Verlagsarchive erschließen die Welt. Neue Forschungsansätze in einer sich ändernden Bestandspolitik am Deutschen Literaturarchiv Marbach
Michael Töteberg Die Erfindung der Nachkriegsliteratur. Verlagsinterna: das Voten-Archiv des Rowohlt Verlags
Gustav Frank / Stefan Scherer Zeitschriften als ›kleine Archive‹. Geschichte, Stellenwert und Funktion des ›Kleinen‹ im ›großen‹ Archiv
Anneka Metzger Mäandern in Archiven. Künstlerische Transformationen gespeicherten Wissens
Michael Töteberg Auswahlbibliografie
Notizen
Michael Töteberg
Ein Gang durchs Archiv Inhalt Michael Töteberg Ein Gang durchs Archiv Katrin von Boltenstern »Niemals Germanisten ranlassen«. Problematiken der Arbeit mit literarischen Nachlässen Michael Schwarz Adorno und die Archivierung des Ephemeren. Bemerkungen zu seinem Nachlass Susanne Fischer Reste und Ränder. »Nichtiges Zeug« im Nachlass-Archiv Arno Schmidts Thomas Ehrsam Vom Suchen und vom Finden. Erfahrungen in Nachlassarchiven Holger Helbig / Katja Leuchtenberger / Antje Pautzke Kann ich das sehen? Über Aufmerksamkeit und Ordnung im Umgang mit dem Uwe Johnson-Archiv Stephan Lesker »Das Archiv ist nutzlos, wenn wir es nicht auswerten«. Walter Kempowski öffnet sein Archiv Alexandra Vasa Aus dem Archiv. Die Transformation von Dokumenten in der literarischen Fiktion Sabine Wolf »Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen«. Archiv und Schreiben: Christa Wolf Birgit Dahlke Autor*innenbibliothek als Archiv? Die Privatbibliothek von Christa und Gerhard Wolf an der Humboldt-Universität Berlin Franziska Galek DDR-Verlagsarchive – alles nur Zensur? Einblicke in das Archiv des Henschelverlags Kunst und Gesellschaft im Literaturarchiv der Akademie der Künste Christoph Hilse Verlagsarchive erschließen die Welt. Neue Forschungsansätze in einer sich ändernden Bestandspolitik am Deutschen Literaturarchiv Marbach Michael Töteberg Die Erfindung der Nachkriegsliteratur. Verlagsinterna: das Voten-Archiv des Rowohlt Verlags Gustav Frank / Stefan Scherer Zeitschriften als ›kleine Archive‹. Geschichte, Stellenwert und Funktion des ›Kleinen‹ im ›großen‹ Archiv Anneka Metzger Mäandern in Archiven. Künstlerische Transformationen gespeicherten Wissens Michael Töteberg Auswahlbibliografie Notizen
Das Archiv hat Konjunktur. War es früher lediglich ein Magazin, ein Aufbewahrungsort für literarische Hinterlassenschaften, den forschende Germanisten oder Aficionados aufsuchten, ist es heute ein Schauplatz auf der literarischen Szene und Feuilletonthema. Die Archive haben sich der Öffentlichkeit zugewandt, präsentieren auf ihren Websites kommentierte Fundstücke oder haben einen Blog. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht per Pressemitteilung über Neuerwerbungen informiert wird.
Sammlungspolitik und Ankaufspraxis haben sich geändert: Wurden früher Schätze aus der Vergangenheit konserviert, öffnet sich das Archiv der Gegenwart. Neben Nachlässen von Berühmtheiten wurden immer schon auch Vorlässe erworben, allerdings von Autoren, die bereits über ein Lebenswerk verfügen. Kaum überrascht, dass die Vorlässe von Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrt werden. Doch immer wieder liest man, dass Autor*innen, deren literarische Arbeit noch längst nicht abgeschlossen ist, ihre Papiere bereits ans Marbacher Archiv gegeben haben: Martin Mosebach und Durs Grünbein zum Beispiel, Sibylle Lewitscharoff, Christian Kracht. Die Motive der Autoren erklärt Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung, ganz prosaisch: »Platzbedarf, Geldbedarf, Ruhmbedarf«. 1Marbach als modernes Pantheon. »Die (Selbst)Einlieferung des Vorlasses ist gewissermaßen eine Bewerbung auf einen Platz im Kanon.« 2
Das drückt den Preis, die Ankäufer wissen darum. »Sie nehmen gern von den Lebendigen«, bekennt Ulrich Raulff, ehemals Direktor in Marbach, in einem Aufsatz zu den »Ökonomien des literarischen Archivs«. 3Die Neuerwerbung kann sich auch als Fehlspekulation erweisen, wie Hanna Engelmeier ausführt. Die Ankäufer »gehen eine Wette ein, deren Einsatz höher ausfällt als bei Nachlässen. Sie wetten darauf, dass mit dem Tod der vorlassgebenden Person eine Nachfrage von Seiten der Forschung eintreten wird, durch die sich die Investition in die Archivierung langfristig amortisiert.« 4
In Literatenkreisen wird gescherzt: Ist das für Marbach oder kann das weg? Angesichts mancher Elaborate aus der Vergangenheit wird mancher Autor, manche Autorin sich fragen: Ist das für Marbach oder sollte das nicht lieber weg? Es muss ja nicht jede Peinlichkeit, jeder erste, noch unbeholfen suchende Entwurf der Nachwelt überliefert werden. Zum Nachlassbewusstsein gehört auch zu vernichten, was nicht ins Archiv soll – Geheimnisse bewahren, nicht alles offenlegen, wenn es nicht gar darum geht, Korrekturen am Lebenslauf und Schaffensprozess vorzunehmen.
Das Literaturarchiv in Marbach wächst Jahr für Jahr um 1300 Regalmeter. Offiziellen Angaben zufolge ruhen in rund 44 000 Archivkästen mehr als 1000 Nachlässe, Sammlungen von Schriftstellern oder Übersetzern. Wer schafft es ins »Endlager der deutschen Literatur«? 5Philosophen, Germanisten und Gelehrte hat Marbach immer schon gesammelt, den Anfang machte Martin Heidegger, und natürlich gehört das Archiv von Peter Sloterdijk hierher. Aber Rio Reiser? Der Musiker wählte sein Pseudonym nach dem Roman »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz und schrieb neben Liedtexten auch Stücke fürs Straßentheater; nun befindet sich sein Nachlass inklusive Konzertmitschnitten, Musikvideos und Filmen im Literaturarchiv. Noch vor ein paar Jahren wäre Rio Reiser (bzw. seine Erben) abgewiesen worden. In einer langen Kette von Traditionen und Traditionsbrüchen stellt sich immer neu die Frage: Was ist Literatur? Die Literaturarchive müssen diese Frage ebenfalls stellen – und beantworten: durch Aufnahme oder Absage von Angeboten.
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