Neben ihren eigenen Beständen nutzen Autoren auch öffentliche Bibliotheken. Die Ausleihvorgänge dürften aber nur noch in seltenen Fällen nachzuverfolgen sein. Im Netz wurde eine Karte aus der Bibliothek des DDR-Schriftstellerverbands angeboten, ein Buch, das nicht in der DDR zu haben war: John Dos Passos’ »Jahrhundertmitte«, erschienen bei Rowohlt 1963. Erstmals ausgeliehen wurde das Buch am 26. Februar 1964. An siebter Position: Christa Wolf. Am 16. August 1965 lieh sich Wolf das Buch aus, am 30. November gab sie es zurück. Wie alle Schriftsteller, die vor oder nach ihr den Roman entliehen, Elfriede Brüning, Rudi Stahl oder Richard Pietraß, hat Christa Wolf persönlich unterschrieben, und so wurde die graue Karteikarte zum Objekt des Autographenhandels.
Die Literaturwissenschaft hat den »Randkulturen« in letzter Zeit verstärkt ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Uwe Wirth siedelt Lesespuren »an der Schnittstelle zwischen Leseprozess und Schreibprozess« an und sieht in Anstreichungen oder Randbemerkungen »Inskriptionen, die als avant -intertextuelle Indices fungieren können«. 51Magnus Wieland setzt dagegen die These, »dass sich die wirklich produktive Lektüre nur selten in Inskriptionen niederschlägt, dass sich der durch Literatur empfangene Einfluss gerade nicht materiell belegen lässt, weil er oft unbemerkt bzw. unbewusst erfolgt«. 52Den aus der Rekonstruktion von Autorenbibliotheken zu gewinnende Erkenntniswert schätzt er entsprechend gering ein. »Was wir von Autorenbibliotheken erfahren können, ist lediglich, welche Spuren die Besitzer in ihnen hinterlassen und wie sie sich lesend selbst darin eingeschrieben haben. Welche Eindrücke sie jedoch produktiv aus ihnen empfangen haben, ist eher im Hinblick auf ihr eigenes Werk als im Rückblick auf die Autorenbibliothek zu beantworten.« 53
»Marbachs Millionenplan. Das Literaturarchiv wird um- und ausgebaut. (…) Vorgestellt wurde ein Masterplan für Neu- und Umbauten im Gesamtvolumen von 130 Millionen Euro. Dazu kam die freudige Kunde, dass aus dem Bundeshaushalt des kommenden Jahres 73 Millionen Euro Fördermittel ans DLA gehen: zur Sicherstellung der Bau- und Digitalisierungsvorhaben, denen sich (Sandra) Richter besonders verschrieben hat. (…) Fertig sein soll alles spätestens 2033, weil Marbach dann eine Landesgartenausstellung ausrichten will.« 54
1Heimo Schwilk: »Im Endlager der Literatur«, in: »Die Welt«, 29.12.2010. — 2Hanna Engelmeier: »Selbsteinlieferung oder: Vorlass nach Marbach!«, in: »Merkur«, 2018, H. 830, S. 33–46, hier S. 43. — 3Ulrich Raulff: »Sie nehmen gern von den Lebendigen. Ökonomien des literarischen Archivs«, in: Knut Ebeling / Stephan Günzel (Hg.): »Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten«, Berlin 2009, S. 223–232. — 4Engelmeier: »Selbsteinlieferung«, a. a. O., S. 34. — 5Schwilk: »Im Endlager der Literatur«, a. a. O. — 6Das BKM unterstützte 2017 fünf Ankäufe für Marbach mit insgesamt rund 250 000 Euro, darunter waren 60 000 Euro für den Vorlass Sibylle Lewitscharoff, 87 000 Euro für den Vorlass Michael Krüger. Der Ankauf des Reclam-Verlagsarchivs wurde vom Bund mit rund 11 600 Euro gefördert. Auch zwei Nachlässe, wie man sie traditionell im Literaturarchiv vermutet, wurden erworben: Der Nachlass Bernhard von Brentanos (Bundesanteil 23 300 Euro) und der Briefwechsel Gottfried Benn / Ursula Ziebarth (über 200 Briefe, Bundesanteil 66 600 Euro). Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung 333, 19.9.2017. — 7Felicitas von Lovenberg: »Ein Abschied auf Raten«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 31.10.2009. — 8Siegfried Lokatis: »Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR«, Stuttgart 2019, S. 546. — 9Ulrich von Bülow / Sabine Wolf (Hg.): »DDR-Literatur. Eine Archivexpedition«, Berlin 2014. — 10Michael Knoche: »Genehmigungsdruck«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 1.8.2019. — 11Der Vorlass Christian Kracht ist noch nicht erschlossen. Erste Einblicke bietet Jan Küveler: »Notizen zu einer Poetik des Nichts«, in: »Die Welt«, 7.12.2019. — 12Ulrich Raulff: »Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus?«, in: »Sinn und Form«, 2006, H. 3, S. 403–413. — 13Knut Ebeling / Stephan Günzel: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): »Archivologie«, a. a. O., S. 7. — 14Ebd. — 15Michel Foucault: »Archäologie des Wissens«, Frankfurt / M. 2020, S. 187. — 16Ebd. — 17Ebeling / Günzel: »Einleitung«, a. a. O., S. 18. — 18Jacques Derrida: »Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression«, Berlin 1997, S. 12. — 19Ebd. — 20Ebeling / Günzel: »Einleitung«, a. a. O., S. 13. — 21Aleida Assmann: »Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses«, München 2006, S. 344. — 22Ebd., S. 345. — 23Ebd., S. 134. — 24Ebd., S. 345. — 25Ebd., S. 134. — 26Boris Groys: »Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie«, München 1992, S. 179. — 27Ebd., S. 23. — 28Ebd., S. 49. — 29Moritz Baßler: »Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie«, Tübingen 2005, S. 181. — 30Ebd., S. 180 f. — 31Moritz Baßler: »Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten«, München 2002. — 32Thomas Kling: »Das brennende Archiv«, Frankfurt / M. 2012, S. 7. — 33Plattform Else Lasker-Schüler: URL: http://www.laskerschuelerarchives.org(15.12.2020). — 34Michael Gasser: »Alles erschlossen, alles digitalisiert – Der moderne Zugang zum Thomas-Mann-Archiv der ETH-Bibliothek. Ein Projektbericht«, in: »Bibliothek. Forschung und Praxis«, 2015, Nr. 3, S. 378–383. — 35Jährlich macht das Archiv in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag und mit Genehmigung der Erbengemeinschaft ausgewählte Originalhandschriften von Thomas Mann online zugänglich. Mit der 2020 erfolgten Teilaufschaltung der Handschriften wurden zum Beispiel Manns Korrekturrückmeldungen zum »Der Zauberberg« an den Verlag ins Netz gestellt. — 36URL: http://handkeonline.onb.ac.at(15.12.2020) — 37Zu Handke online vgl. Vanessa Hannesschläger: »Analoge Literatur und digitale Forschung. Perspektivenverschiebung in Online-Projekten von Literaturarchiven«, Berlin 2017. — 38Aus diesem Anlass führte Ulrich von Bülow ein Gespräch mit Handke über seine Tagebücher, das im »Marbacher Magazin 161: Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke« neben Essays über Tagebuch-Notizen zu Spinoza und Heidegger abgedruckt ist. Der bibliophil aufgemachte Band mit farbigen Faksimiles ist das Gegenstück zur Online-Präsentation der Notizbücher. — 39Vgl. Georg Vogeler: »Das Digitale Archiv. Der Computer als Mediator, Leser und Begriffsbildner«, in: Klaus Kastberger / Stefan Maurer / Christian Neuhuber (Hg.): »Schauplatz Archiv. Objekt – Narrativ – Performanz«, Berlin 2019, S. 75–87, hier S. 77. — 40Hannesschläger: »Analoge Literatur und digitale Forschung«, a. a. O. — 41Ebd. — 42In Anlehnung an Boris Groys konstatiert Magnus Wieland: »Allein die stationäre Aufbewahrung an genau einem, nicht jederzeit zugänglichen Ort bewirkt die Auratisierung des Originals.« Magnus Wieland: »Aura – Von der Dignität zur Digitalität des Dokuments«, in: Kastberger u. a. (Hg.): »Schauplatz Archiv«, a. a. O. S. 89–105, hier S. 94. — 43Vogeler: »Das Digitale Archiv«, a. a. O., S. 85. — 44Julia Encke: »Exit-Strategie.Herrndorfs Revolver«, in: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, 13.4.2016. — 45Vgl. https://www.dla-marbach.de/bibliothek/spezialsammlungen/bestandsliste/bibliothek-paul-celan/(15.12.2020). — 46Clement Fradin: »Mit dem Buch / gegen das Buch schreiben. Zu dem Gedicht ›Unverwahrt‹ von Paul Celan und der Lektüre von Alexander Sperls Buch ›Teste selbst‹«, in: Stefan Höppner u. a. (Hg.): »Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren«, Göttingen 2018, S. 130–154. — 47Informationen zur Bibliotheksgeschichte, zu den Beständen, den Provenienzmerkmalen und zu einzelnen Büchern bietet die Publikation: Stephan Matthias / Oliver Matuschek: »Stefan Zweigs Bibliotheken«, Dresden 2018. — 48Anke Jaspers: »(Frau) Thomas Manns Bibliothek? Autorschaftsinszenierung in der Nachlassbibliothek«, in: Dies. / Andreas B. Kilcher (Hg.): »Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts«, Göttingen 2020, S. 141–165, hier S. 141. — 49Thomas Mann Nachlassbibliothek | ETH Zürich. — 50Jaspers: »(Frau) Thomas Manns Bibliothek«, a. a. O., S. 159. — 51Uwe Wirth: »Lesespuren als Inskriptionen. Zwischen Schreibprozessforschung und Leseprozessforschung«, in: Jaspers / Kilcher (Hg.): »Randkulturen«, a. a. O., S. 37–63, hier S. 49. — 52Magnus Wieland: »Border Lines – Zeichen am Rande des Sinnzusammenhangs«, in: Jaspers / Kilcher (Hg.): »Randkulturen«, a. a. O., S. 64–89, hier S. 89. — 53Ebd. — 54»Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 28.11.2020.
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