Daraus ist über die Jahre mit Politikern und Kollegen in Deutschland wie in Europa und auf internationaler Ebene ein enges Vertrauensverhältnis, eine Art Netzwerk entstanden. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen bin ich noch heute befreundet oder zumindest in Verbindung. Mitunter musste ich für manche auch als der „verlängerte Arm“ Helmut Kohls, sein „Strippenzieher“, wie der Economist einmal titelte, aber auch sein „Terrier“ oder „Wadenbeißer“ erscheinen – auch dies gehörte zur Aufgabe – als ob es dies in den Ministerien oder in den Fraktionen oder selbst im Europäischen Parlament nicht auch gegeben hätte!
Umgekehrt erwartete das „Mutterhaus“ Auswärtiges Amt – außer dem Minister selbst, der dieses Spannungsfeld sehr wohl einzuschätzen wusste – wie selbstverständlich die Hilfe bei der Durchsetzung seiner Auffassungen gegenüber dem Bundeskanzler(-amt) und den anderen Ministerien. Oft war damit von manchen Kollegen viel zu wenig Verständnis dafür verbunden, dass es für mich keine gespaltene oder doppelte Loyalität geben konnte.
Hinzu kamen – und auch das gehörte dazu – eine gute Portion Eifersucht, Neid über die vermeintliche Machtstellung bzw. deren Nutzung, abgesehen von der manchmal recht eigenwilligen, von Genscher geförderten und von Kohl in Nebenthemen geduldeten Interpretation des „Ressortprinzips“ seitens des AA versus „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers.
Zudem verstanden die gleichen Kollegen viel zu wenig, dass diese vermeintliche Macht „abgeleitet“ war und vom Kanzler jederzeit widerrufen werden konnte – und dass ich auch zuweilen unter unmissverständlicher Weisung seitens des Bundeskanzlers stand. Ich wäre immer der erste gewesen, der „seinen Hut hätte nehmen müssen“. Insofern führten Führungsstil und -methode von Helmut Kohl dazu, dass ich regelmäßig auf Risiko arbeiten musste und zwar auf mein eigenes Risiko.
Oft genug habe ich im Kanzleramt versucht, das „Amt“ und die Kollegen im Zweifel zu unterstützen, zu schützen und dafür genug Prügel, manchmal von beiden Seiten, einstecken müssen. Einer der wenigen, der dies, wenn auch (zu) spät begriff, war der frühere Außenminister Kinkel, der in der Schlussphase erfahren musste, von eigenen Leuten im Stich gelassen zu werden.
Manchmal kosteten die „Kollegen“ mich mehr Nerven und Anstrengung als es die Sache letztlich wert war. Viele freuten sich daher als „Gottes Strafe“ über die Wahlniederlage 1998, hofften auf meine sofortige Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Sie mussten sich noch ein wenig gedulden und mich als Botschafter zunächst bei der NATO in Brüssel, dann in Spanien ertragen. Mit anderen hat sich ein vertrauensvolles, je freundschaftliches Verhältnis bis heute erhalten, dafür bin ich ihnen dankbar.
Zugleich gab es aber auch Kollegen aus anderen Häusern, mit denen ich diskret Kontakt hielt. Wir nutzten ein über die Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis, um uns gegenseitig auch über sensible Vorgänge zu unterrichten. Ich nenne insoweit bewusst Vizeadmiral Ulrich Weisser, er war einer der wenigen strategisch denkenden in der Bonner Szene, er war der Vertraute des selbstbewussten, oft an die Grenzen seiner „Autonomie“ gehenden Verteidigungsministers Volker Rühe und im Kanzleramt im Umfeld des Bundeskanzlers nicht wohl gelitten. Trotzdem hielten wir engen Kontakt, hielten uns diskret auf dem laufenden, ohne unbedingt unseren Chefs darüber alles zu berichten – für ihn wie für mich nicht ohne Risiko, aber das gehörte einfach zum Geschäft.
1Werner Rouget, Schwierige Nachbarschaft am Rhein, Frankreich – Deutschland, herausgegeben von Joachim Bitterlich und Ernst Weisenfeld, Bonn 1998
II. Kapitel
Helmut Kohls „rote Fäden“ – Determinanten deutscher Außenpolitik
1. Ausgangspunkte und Grundlagen
Ausgangspunkt meiner Beobachtungen und Betrachtungen als „Zeitzeuge“ der Ära Kohl müssen die Determinanten, die Grundlagen und Ziele deutscher Außenpolitik darstellen. Ich möchte dabei auch vor allem der Frage nachgehen, inwieweit diese sich mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konflikts verändert haben.
Es mag kaum jemanden, der mich kennt, verwundern, dass ich das deutsch-französische Verhältnis und seine Zukunft quasi „vor die Klammer“ ziehe und ihm besondere Aufmerksamkeit widme.
Darauf aufbauend folgen die Entwicklung der deutschen Europapolitik in jenen Jahren als dem zentralen Baustein deutscher Politik sowie die Fragen nach der deutschen Außenpolitik, insbesondere das Verhältnis zu Nordamerika, ehemals Eckpfeiler unserer Außenpolitik, heute in der Gefahr des Auseinanderdriftens, sowie zu Asien und den anderen Kontinenten. Sie zeigen auf, wie sehr die heutigen Fragen, Krisen, Konflikte doch in Wahrheit bereits in jener Zeit „angelegt“ waren und nicht gelöst werden konnten bzw. sich anders als gedacht entwickelt haben. Dem schließen sich aufbauend auf der Rückschau Überlegungen zur Zukunft und Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas an.
Deutschlands Geschichte, seine geopolitische Lage, seine innere politische und wirtschaftliche Statur bestimmen seine Außenpolitik – ein banal klingender Satz, dessen Ausbuchstabierung jedoch alle Probleme und Fallstricke offenlegt.
Deutschland war und ist in Europa das Land mit den meisten Grenzen, wir haben mehr unmittelbare Nachbarn als alle anderen Partner – insgesamt neun. Deutschland liegt mitten auf dem Kontinent, ein Durchgangs-, heute würde man sagen Transitland an der Schnittstelle von Ost und West, Nord und Süd, ein offenes Land, nur zu einem geringen Teil mit natürlichen Grenzen. Über Autobahngebühren, Grenz- oder Immigrationskontrollen – heute über Flüchtlinge – bei uns zu sprechen und eine entsprechende Politik zu praktizieren, ist ein gutes Stück komplizierter als für viele unserer Partner in Europa.
Es kommt hinzu, Deutschland ist heute mit seinen gut 80 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land und zugleich die stärkste Wirtschaftskraft Europas. Dies macht unsere Lage schwieriger, zudem gibt es uns eine größere Verantwortung nach innen wie nach außen.
Wesentlich ist auch, dass wir ein Land mit einer schwierigen Geschichte sind. Es ist hier nicht der Raum, dies im Einzelnen auszuführen und zu bewerten. Wir haben mit die kürzeste Geschichte als Nation, wir müssen uns der Verantwortung für die durch die Nazis im deutschen Namen geschehenen Verbrechen an den Juden, aber auch anderen europäischen Nationen stellen. Wir können sie nicht einfach in das Buch der Geschichte ablegen, sondern müssen wissen, wie wir damit umgehen.
Mir ging diese Frage immer wieder durch den Kopf, als sich im Jahre 2000 in einer mir bis heute kaum verständlichen Aktion die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac an die Spitze der Bewegung setzte, um den Nachbarn Österreich angesichts des Eintritts des liberal-radikalen Jörg Haider in die Regierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auf die europäische Anklagebank zu setzen. Ziel war es, im Vorgriff auf die neuen, noch gar nicht in Kraft getretenen europäischen Vorschriften des Vertrages von Nizza Österreich unter Quarantäne bzw. Kuratel zu stellen. Ich dachte mit Schaudern an mögliche andere Fälle, an größere Länder wie Frankreich oder Italien, aber auch an uns selbst.
Wie würden dann die Mitgliedsländer der EU und ihre Institutionen reagieren? Und, wenn meine Informationen richtig sind, hatte wie so oft eine menschliche Reaktion am Anfang dieses politische Erdbeben ausgelöst: Jacques Chirac hatte vergeblich versucht, dem österreichischen Bundeskanzler klar zu machen, er müsse auf eine Koalition mit den Freiheitlichen verzichten, dies vor einem rein französischen Hintergrund. Er befürchtete, dass dadurch der Front National hoffähig, regierungsfähig werden könnte. Schüssel musste der Bannstrahl daher doppelt hart treffen! Sein Ziel war es doch, die Freiheitlichen durch die Einbeziehung in Regierungsverantwortung zu zerreiben. Und Gerhard Schröder, ihm schien dies gut in die Abgrenzung zur CDU zu passen.
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