Oder die Energiepolitik. Auch hier konnten – können auch heute noch – die Grundlagen und Perzeptionen nicht gegensätzlicher sein, dort das Land mit staatlich gelenkter Energiepolitik, mit Electricité de France, EDF, als der beherrschenden Staats-Gesellschaft, mit der Kernenergie als dem großen Energielieferanten – hier das Land mit den großen vier Energieversorgern, Oligopolen, mit den Stadtwerken, mit der tiefen Skepsis ja Angst vor der Kernenergie, mit der psychologisch überhöhten Stellung der Kohle, der besonderen Rolle des Gases (Russland!) und vor allem der erneuerbaren Energie – Wind und Sonne – als Fetisch! Ja, dies ist meine Kurzbeschreibung der Lage im Energiebereich! Komplizierter geht es kaum!
In den neunziger Jahren versuchten wir – der Freund und Kollege Sighart Nehring und ich – mit den Franzosen, einen „historischen“ Kompromiss zur Öffnung und Liberalisierung des europäischen Energiemarktes zu erreichen. Wir diskutierten stundenlang mit den Kollegen, loteten Möglichkeiten eines Kompromisses aus, hielten Rücksprache mit Verbänden, mit den Bundesländern, mit anderen Partnern. Wir schlugen schließlich den Franzosen einen stufenweisen Ansatz, Privat- und Industriekunden unterscheidend, vor, den die Franzosen dann nach einem gewissen Zögern zu Hause vertreten konnten, und der zur Richtschnur für den Kompromiss in Brüssel wurde. Es war übrigens Otto Wiesheu, der damalige bayerische Wirtschaftsminister, der uns auf diesen Pfad gebracht hatte.
Im Nachhinein muss ich freilich offen eingestehen, dass der damals gewählte Ansatz uns einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik nicht näher gebracht hat, schade! Und ich musste Jahre später von außen, zugleich als Vertreter eines in dieser Branche tätigen großen Unternehmens, mitansehen, dass uns in Deutschland die erste – wie auch später die zweite – „Energiewende“ uns diesem Ziel auch nicht näher gebracht hat, im Gegenteil!
Und doch wartet Europa unverändert auf den „historischen Energie-Kompromiss“ zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen dem Land, das an der Kernenergie festhält und dem, das stattdessen auf erneuerbare Energien setzt. Ein solcher – wünschenswerter und durchaus möglicher „historischer“ Kompromiss setzt freilich den Respekt vor der Wahl des Partners voraus und den Willen, gemeinsam Energieeffizienz und erneuerbare Energien zu entwickeln.
Die letzte EU-Kommission um Jean-Claude Juncker schien weitaus mehr als ihre Vorgänger, vielleicht auch dank der Vorarbeit seitens des von vielen so geschmähten und unterschätzten Kommissars Günther Oettinger, willens, einen gemeinsamen Energiemarkt und eine „Energie-Union“ in die Tat umzusetzen. Und doch, Fortschritte sind bis heute mehr als beschränkt! Unterschiedliche Auffassungen und Herangehensweisen, unterschiedliche Traditionen und Geschichten, systemimmanente Schranken – und vor allem unterschiedliche Perzeptionen sind geblieben und bereiten zunehmend Schwierigkeiten.
Ein ähnliches, zugleich ganz besonderes Beispiel ist die nukleare Verteidigung, ein Kapitel, in dem man mehr von außen eine im Grunde im Innern durchaus vorhandene Zwietracht mit Hilfe von Unterstellungen zu verstärken suchte.
Manche versuchten – ohne Erfolg – uns zu unterstellen, die Regierung Kohl habe trotz des klaren Verzichts auf Nuklearwaffen durch die Hintertür eine Beteiligung gesucht. Die Linie war immer klar, keine eigenen Waffen, aber Beteiligung im Sinne einer Teilhabe durch Einbeziehung in Konsultationen bzw. gemeinsam mit anderen Alliierten Unterstützung der Amerikaner beim Einsatz.
Für Präsident Mitterrand war der amerikanische Schutz Grundlage der Abschreckung des Westens gegen die Sowjetunion, die französischen Waffen waren auch wohl für ihn in Wahrheit komplementärer Natur. Frankreich wollte nicht allein von der amerikanischen Politik abhängig sein.
Zugleich verstand er, dass Frankreich, allein auf sich gestellt nicht nukleare Schutzmacht für Deutschland sein konnte. Er hatte aber Verständnis, ohne dass die Deutschen insoweit nachhaken mussten, für die kritische Lage für Deutschland als damaligem „Frontstaat“, vor allem in Bezug auf den möglichen Einsatz der französischen nuklearen Gefechtsfeld- oder Kurzstreckenwaffen im Rahmen der Vorneverteidigung des französischen Territoriums. Stichworte „Pluton“ und „Hades“! Von daher bot er dem Bundeskanzler Konsultationen vor einem eventuellen Einsatz an – dies bei einer Frage, die für beide Seiten von hoher politischer Sensibilität war. Klar war immer, dass das letzte Wort über den Einsatz beim französischen Präsidenten blieb. Eine Diskussion über Sinn und Zweck der französischen Nuklearverteidigung – über Sinn und Zweck des Plateau d'Albion, der Luft- und U-Boot-gestützten Nuklearwaffen war, so hoch interessant, nur außerhalb des klassischen Rahmens von Konsultationsgesprächen möglich. Die Gefechtsfeldwaffen von damals sind abgerüstet – und doch liegt das Thema heute wieder zu Recht auf dem Tisch.
Angesichts der Unsicherheiten um die amerikanische Politik hat der französische Präsident Emmanuel Macron angeregt, Gespräche über eine europäische Teilhabe mit Hilfe von Konsultationsmechanismen aufzunehmen. Und Berlin tut sich leider unverändert schwer mit dieser Frage, leider mit zum Teil einem Denken, das fern der Realität ist.
„Deutschland-Frankreich“ war in vielen Bereichen ein „Geben und Nehmen“, ohne aber bewusst den Partner nicht zu überfordern. Kritische Phasen wurden so gemeinsam überwunden, auch wenn wir nicht immer sofort die „Ideallinie“ fanden.
Grundlage für solche gemeinsame Vorgehensweisen bildete ein über Jahre aufgebautes Vertrauensverhältnis zwischen den Spitzen beider Seiten, das dem Partner letztlich die Sicherheit gab, nicht benachteiligt oder überfordert zu werden. Daraus sind über die Jahre auch Freundschaften erwachsen, ob zwischen Beamten oder Politikern. Helmut Kohl stand in all den Jahren zwei französischen Politikern besonders nahe – François Mitterrand und Jacques Delors. Über letzteren wird im Rahmen der Europa-Politik zu sprechen sein.
Zwei Präsidenten, neun Premierminister
Ich möchte auf das Verhältnis zu den beiden Präsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac näher eingehen, zugleich aber auch die neun Premierminister Frankreichs nicht vergessen, mit denen es Helmut Kohl zu tun hatte.
Helmut Kohl hat in den sechzehn Jahren seiner Kanzlerschaft insgesamt neun Premierminister an der Seite von zwei Staatspräsidenten erlebt, einige davon waren, wie man in Frankreich gerne sagt, präsidentiabel – und nur ein einziger schaffte es schließlich, und das war Jacques Chirac, im dritten Anlauf!
Dies sagt aber nichts über das für den Partner nicht leicht zu durchschauende Verhältnis zwischen Staatspräsident und Premierminister. Vor der ersten „Cohabitation“ mit Chirac hatte Helmut Kohl bereits zwei Premierminister „erlebt“ (Pierre Mauroy und Laurent Fabius), in meiner Zeit sollten unter Mitterrand fünf weitere hinzukommen (Jacques Chirac, Michel Rocard, Edith Cresson, Pierre Bérégovoy, Edouard Balladur) sowie dann unter Chirac selbst zwei: Alain Juppé und Lionel Jospin.
Der Bundeskanzler bezeichnete sich bei der dritten Cohabitation dann öfters scherzhaft als „Spezialisten“ im Umgang mit diesem französischen Phänomen, das mit den Koalitionsregierungen im deutschen Sinne nicht vergleichbar ist. Naturgemäß standen die Premierminister politisch und verfassungsmäßig im Schatten des Präsidenten, der eine oder andere versuchte es trotzdem, sich einen gewissen Freiraum zu verschaffen oder zu erkämpfen. Dies galt besonders in Zeiten der Cohabitation für Chirac selbst, für Edouard Balladur und für Lionel Jospin, aber auch in Zeiten „gleicher politischer Flagge“ für Michel Rocard oder Alain Juppé.
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