Menschenbildvorstellungen in der Medizin
Schon die Untersuchungen Foucaults verweisen auf die medizinische Deutungsmacht und ihren Einfluss auf die gesellschaftlichen Normalitäts- und Gesundheitsvorstellungen (vgl. Kreß 2003, Foucault 2000), so dass sie auch für die Pädagogik von Relevanz sind. Dass es in der Medizin nicht das eine Menschenbild, sondern eine Vielzahl an Menschenbildern gibt, zeigt Riha, indem sie die historischen Veränderungen im medizinischen Menschenbild beschreibt. Während Krankheit ursprünglich als Chaos beschrieben wurde, das nur durch Zauber geheilt werden konnte, kann schon um 400 v. Chr. vom Beginn rationaler Medizin gesprochen werden (vgl. Riha 2012). Ein wirklicher Paradigmenwechsel in der Medizin kann mit Descartes festgestellt werden, »indem er den Körper als eine von Gott geformte Maschine verstand, die mit allen Teilen so ausgestattet wurde, dass sie funktioniert« (vgl. Dörner 1999). Ab diesem Zeitpunkt rückte die Krankheit als vermeidbarer und überwindbarer Zustand ins Zentrum der Medizin. »Diese Entwicklung fand ihren tragischen Höhepunkt in der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Medizin erkannte Euthanasie als Heilhandlung an« (Goldbach 2014, 82).
Bezogen auf die Gegenwart können in der Biotechnisierung von Medizin weitere scheinbar zukunftsweisende Möglichkeiten der ›Heilbehandlung‹ von Menschen beschrieben werden. Diesen sich daraus ergebenden bioethischen Herausforderungen widmet sich Kapitel 2.3 (
Kap. I, 2.3).
Maio (2004) kritisiert die Reduktion des Menschen auf seine Funktionsfähigkeit und stellt fest, dass sich die Wahrnehmung des Menschen als Mechanismus im medizinischen Alltag unter anderem darin widerspiegelt, dass primär die Krankheit und weniger der Patient im Fokus der Medizin steht (vgl. ebd.). Eine Folge dieser Sicht auf den Menschen ist, dass sich auch die diagnostischen Methoden dieser eindimensionalen Sichtweise unterordnen: Ein mechanistisch verstandener Patient verlangt nach einer Pathologisierung und strengen Diagnoseorientierung (vgl. Uexküll 1999). Graumann (2011) beschreibt als Gegenpole dieser naturalistischen Sicht auf den Menschen die Bestrebungen der »medizinischen Anthropologie (z. B. Viktor von Weizsäckers) und die Ganzheitlichkeitsbewegung, die auch in der Pflege ihren Niederschlag« (Graumann 2011, o.S.) findet. »Trotzdem wird es immer offensichtlicher, dass die Reduktion des Menschen auf ein berechenbares Maschinenmodell den Anforderungen einer zukunftsträchtigen Medizin nicht mehr gerecht zu werden vermag. Die komplexen Multimorbiditäten, welche heute die grosse therapeutische Herausforderung darstellen, lassen sich physikalistisch-mechanistisch nur mangelhaft verstehen. Viele Patienten akzeptieren es zu Recht nicht mehr, als Behandlungsgegenstände (die es zu reparieren gilt) und nicht als einmalige und unverwechselbare Individuen behandelt zu werden« (Spijk 2018, o. S.). Der Mensch als endliches und verletzliches Wesen erfährt immer mehr Aufmerksamkeit im Gesundheitswesen, wodurch das bisher »traditionelle Heilungsparadigmas« (Graumann 2011, o. S.) ergänzt wird 38 . Die Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen werden mittlerweile verstärkt thematisiert wodurch neue Schwerpunktsetzungen im Gesundheitswesen entstehen und das traditionelle Heilungsparadigma erweitert wird, so bspw. in der Palliativmedizin und Pflege (vgl. Graumann 2011). Dennoch wird immer wieder eine Diskrepanz zwischen diesen Bemühungen und weiterhin fest verwurzelten liberalen Debatten in der Medizin (vgl. Beier 2009) deutlich. So auch an der aktuellen Triage-Diskussion und den damit verbundenen Empfehlungen der »Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)« zu ethischen Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie (vgl. DIVI 2020), welche utilitaristische Abwägungen anstellt und damit gegen geltendes Menschenrecht und die Einhaltung der Würde für alle Menschen verstößt (vgl. Bochumer Zentrum für Disability Studies 2020). Spijk 2018 macht deutlich, dass sich die Disziplin der Medizin auf der Suche nach einem neuen Menschenbild befindet und begründet, dass »eine geeignetere Modellvorstellung des Menschen in der medizinischen Praxis noch auf sich warten lässt, […] möglicherweise damit zu tun [hat; d. A.], dass wir, von Alltagssorgen getrieben und von technischen Neuerungen geblendet, etwas Wesentliches verpassen: das Nachdenken über den Menschen!« (Spijk 2018, o.S.).
Menschenbildvorstellungen in der Wirtschaft
Die Überschneidungen zwischen einem beschriebenen medizinischen Menschenbild und den Menschenbildvorstellungen der Wirtschaft scheinen auf der Hand zu liegen, denn in der medizintechnischen Optimierung des Menschen kann gleichfalls eine Ökonomisierungstendenz gesehen werden, und ebenso wie Menschenbildvorstellungen aus der Medizin haben auch jene aus der Wirtschaft eine große gesellschaftliche Deutungsmacht (vgl. Goldbach 2014). Das führt dazu, dass sich die Forderungen der Wirtschaft an den Menschen und ihre Vorstellungen davon, wie der Mensch sein soll, permanent aufdrängen. Dass die Wertigkeit eines Menschen aber mit seiner Nützlichkeit für die Gesellschaft und dem Nutzen für die Ökonomie in Verbindung gebracht wird, hat eine lange Tradition. Schon in der Antike empfanden es Philosophen als Vorteil, die Gesellschaft von kranken und gebrechlichen Menschen zu befreien (vgl. Piegsda & Link 2019). Als wegweisend für das Menschenbild in der Ökonomie können Hume und Smith genannt werden, die mit ihrer Schrift »Der Wohlstand der Nationen« von 1776 das Menschenbild des homo oeconomicus zum allgemeinen Leitbild der Wirtschaftswissenschaften machten (vgl. Wiesmeth 2012). Diesen Vorstellungen über den Menschen folgend, ist der Mensch ein ausschließlicher Nutzenmaximierer, der unabhängig von Gefühlen, allein entsprechend seines Vorteils und in objektiver Abwägung aller Angebote handelt 39 .
Auch wenn man sich heute in den Wirtschaftswissenschaften einig ist, dass der homo oeconomicus nicht ausreicht, um den Menschen und sein Handeln zu beschreiben, weil er die Eingebundenheit des Menschen in Kultur und Geschichte, in ein soziales Gefüge und in Emotionen nicht berücksichtigt (vgl. Suchanek & Kescher 2006; Sell 2008; Weede 2003), wird der homo oeconomicus noch immer nicht als Berechnungsgrundlage in Frage gestellt und ist noch immer Bestandteil des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums.
Requate (2012) stellt in seinem Beitrag alternative Menschenbilder in den Wirtschaftswissenschaften vor. So beispielsweise den homo reziprokans, welcher sehr gut veranschaulicht, wie stark Emotionen das menschliche Handeln beeinflussen. Trotz dieser Weiterentwicklungen bleibt schlussendlich mit Volkmann (2003) festzuhalten, dass den ökonomischen Menschenbildvorstellungen eine Armut humanistischer Werte bescheinigt werden muss. Diese Ferne zu humanistischen Wertvorstellungen liegt jedoch zwangsläufig darin begründet, dass oberstes Primat der Ökonomie die Maximierung des (eigenen) Gewinns ist.
Menschenbildvorstellungen im Kontext inklusiver Pädagogik
Bevor damit begonnen werden kann, über ein Menschenbild zu sprechen, welches für die Entwicklung einer inklusiven Pädagogik bedeutsam sein kann, soll noch einmal an die grundlegenden Eigenschaften von Menschenbildern erinnert werden. Standop (2017) widmet sich in ihren Arbeiten Menschenbildvorstellungen in der Schule und beschreibt diese als die Gesamtheit aller Annahmen und Überzeugungen darüber, was der Mensch von Natur aus ist, wie der Mensch in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele das Leben eines Menschen haben sollte. Menschenbilder sind demzufolge in bestimmte individuell gültige Lehren eingebunden (vgl. Standop et al. 2017). Damit geht auch sie davon aus, dass Menschenbilder von unterschiedlichen Disziplinen im gesellschaftlichen Kontext transportiert werden und die Entstehung solcher Menschenbilder unmittelbar durch unterschiedliche soziohistorische Rahmenbedingungen mitbeeinflusst werden.
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