Ein in Deutschland sehr umkämpftes und stark polarisierendes Recht, das im Artikel 24 der UN-BRK verankert ist, betrifft die inklusive Schulbildung. Die Monitoring-Stelle spricht für Deutschland von einer nicht nachvollziehbaren Abweichung von den international anerkannten Interpretationsstandards und dem Verkennen zentraler Inhalte, was sich insbesondere auch in der deutschen Übersetzung von ›Inclusion‹ zu ›Integration‹ widerspiegelt (vgl. ebd.). Aufgrund des föderalistischen Schulsystems und der (rechtlichen) Unbestimmtheit zentraler Begriffe und ihrer Bedeutung ist der Stand der Umsetzung inklusiver Bildung bundeslandspezifisch sehr unterschiedlich und erweist sich als stark abhängig von politischen Programmen und den jeweiligen Entscheidungsträgerinnen*. So wurde in einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie im Jahr 2017 herausgearbeitet, dass die gesetzlichen Vorgaben und Rahmenrichtlinien zu sonderpädagogischen Diagnostiken, Zuordnungsprinzipien und Datenerfassung abhängig vom Bundesland stark variieren. Daher ist in der Beurteilung der Umsetzung schulischer Inklusion in den einzelnen Bundesländern eine rein statistische Betrachtung anhand sogenannter ›Inklusionsquoten‹ bzw. ›Exklusionsquoten‹ nicht zielführend. Zudem sagen die Statistiken nichts über die Qualität der inklusiv gestalteten Schulpraxis aus (vgl. Lange 2017, 10 f.) 34 . Vielmehr erweist es sich als lohnenswert, andere statistisch ablesbare Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die Hinweise auf politische Programmatiken und Entwicklungen geben. Beispielsweise variiert der Anteil an Schülerinnen* mit zugewiesenem sonderpädagogischen Förderbedarf in den einzelnen Bundesländern stark; von nahezu 11 % (Mecklenburg-Vorpommern) bis 5,7 % (Hessen): »Diese Differenzen zeigen, dass die Klassifizierung und Exklusion eines Kindes als ›sonderpädagogisch förderbedürftig‹ – mit allen Folgen für die weitere Lebensperspektive des Kindes - wenig eindeutig ist« (vgl. Lange 2017, 15). Ebenso auffällig ist der zunehmend hohe Anteil an Schülerinnen* mit der Diagnose geistige Behinderung (
Kap. III, 2.1) sowie der quantitativ nachweisbare Zustand, dass Schülerinnen* ohne deutsche Staatsangehörigkeit, zum Beispiel Schülerinnen* mit Flucht- und/oder Migrationshintergrund, in vielen Bundesländern an Förderschulen überrepräsentiert« sind (Lange 2017, 15). Insgesamt lässt sich kritisch bilanzieren, dass Inklusion auf politischer Ebene im Allgemeinen, wie im Bereich der Bildungspolitik im Besonderen populistisch betrieben wird (Jantzen 2012c) und Ausgrenzungen im gesellschaftlichen (Schul)Alltag allgegenwärtig sind (ebd.).
Auch wenn, wie in den Veröffentlichungen zur jährlich stattfindenden Integrations- und Inklusionsforscherinnen*tagung (1996 bis heute) deutlich wird, schulische Inklusion eines der zentralen Themenfelder ist, reichen die Forderungen der UN-BRK jedoch weit darüber hinaus. »Full and effective Participation« (UN-BRK, Artikel 1) wird für alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche gefordert, und in Deutschland soll das seit 2018 schrittweise eingeführte Bundesteilhabegesetz (BTHG) dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Mit Maßnahmen zur Verbesserung der Einkommens- und Vermögensheranziehung oder durch die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe und die Stärkung der Personenzentrierung soll die »volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft« (§ 1 BTHG) gefördert werden. Doch viele Selbstvertretungsorganisationen und Einzelpersonen üben Kritik an den Neuregelungen durch das BTHG und stellen in Frage, dass das Gesetz tatsächlich dazu beiträgt, Selbstbestimmung und Teilhabe zu stärken (vgl. Deubner 2017). Viele der Änderungen und Verbesserungen, die die finanzielle Situation der betroffenen Personen stärken sollen, seien vor allem für die Menschen mit Behinderung vorteilig, die Erwerbseinkommen haben und unabhängig von Sozialleistungen sind. Im Falle einer Hilfe zur Pflege und/oder eines Bedarfs an anderen Sozialleistungen, die weiterhin durch das sogenannte Sozialhilfegesetz geregelt werden und damit den entsprechenden Regularien unterliegen, profitieren die Betroffenen kaum. Zudem gibt es in entscheidenden Punkten, wie der freien Wahl des Wohnortes, wenig rechtliche Verbindlichkeit, und es liegt im Ermessen der jeweiligen Bearbeiterin*, ob beispielsweise der Wunsch nach einer eigenen Wohnung und einer dafür notwendigen Assistenz realisiert werden kann. Diese Entscheidung wird mitbestimmt durch die Möglichkeit des ›Poolens‹ von Leistungen, das durch das BTHG rechtlich ermöglicht wird. Poolen bedeutet, dass sich mehrere Leistungsberechtigte eine Leistung teilen. So ist bspw. das Poolen von Leistungen in stationären und teilstationären Einrichtungen besser möglich als in ambulanten Wohnformen. Das Poolen von Leistungen ist zwar nur bei Zumutbarkeit gestattet, aber »durch die Zumutbarkeitsprüfung entsteht […] für die leistungsberechtigte Person ein Rechtfertigungsdruck, weswegen wir auch von Zwangspoolen sprechen« (Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz, o. S.). Mit Blick auf die umfänglichen Kritikpunkte am BTHG stellt sich die Frage, in welchem Rahmen Menschen mit Behinderungserfahrungen bzw. entsprechende Selbstvertretungsorganisationen in die Erarbeitung der gesetzlichen Grundlagen einbezogen wurden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales drückt sich hier eher vage aus und schreibt dazu: Der Beirat für die Teilhabe behinderter Menschen »wird [als; d. A.] Gremium regelmäßig genutzt, um aus Sicht des Bundes und der Länder über den aktuellen Stand der Umsetzung des BTHG zu informieren. Anschließend ist eine Gelegenheit zu einer Aussprache vorgesehen. […] Dazu werden jeweils vor und nach den LBAG 35 -Sitzungen Gespräche mit dem DBR 36 und dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen mit dem Ziel geführt, die Anliegen der Menschen mit Behinderungen angemessen zu berücksichtigen« (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, o. S.).
1.6 Exkurs: Rolle der Selbstvertreterinnen*
Dabei sollte ein wesentliches Prinzip in der Erarbeitung rechtlicher Grundlagen und politischer Entscheidungen im Sinne der Selbstbetroffenheit und -bestimmung und politischer Partizipation der Einbezug von Selbstvertreterinnen* sein. Dies ist jedoch längst nicht gängige Praxis, und die Zusammenarbeit gestaltet sich teilweise noch schwierig. Diese Schwierigkeiten können auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden, wie einstellungsbezogene Vorbehalte oder die Barrieren in der Darstellung bestimmter politischer Sachverhalte, die es Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung erschweren, sich politisch zu positionieren. So sei beispielsweise die Mitwirkung von Interessensverteterinnen* im Rahmen der Verhandlungen um den Rahmenvertrag des BTHG in Schleswig-Holstein »[…] für alle Beteiligten neu und damit ungewohnt« (Hase in Miles-Paul 2019, o. S.). Zudem sei »das Thema kompliziert. Menschen mit Behinderung müssen lernen, sich dazu politisch zu positionieren« (ebd.). Und »die Vertragspartner respektieren Menschen mit Behinderung noch nicht als Experten in eigener Sache und beziehen sie aktiv in Entscheidungsprozesse ein« (ebd.). Diese Herausforderungen und Barrieren für die politische Partizipation von Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung bzw. ihrer Selbstvertretungsorganisationen führen dazu, dass wesentliche Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen werden. Und kommt es doch zur partizipativen Einbindung, so besteht zumindest die Gefahr, dass der Beteiligung von Selbstvertreterinnen* in einigen Fällen eine bloße Alibifunktion innewohnt und die Wirksamkeit der Entscheidungsmacht auf der Strecke bleibt. Es ist zu beachten, dass auch Selbstvertretungsgruppen keinesfalls die Positionen aller Menschen mit Behinderung wiederspiegeln, und Homann & Bruhn (2020) weisen darauf in, dass auch diese Organisationen dazu beitragen können, Stereotype zu festigen und diese so unter Umständen in wesentliche rechtliche und politisch relevante Entscheidungsprozesse einfließen bzw. deren Legitimationsgrundlage bilden 37 . Nichts desto trotz sollte Partizipation ein Grundprinzip politischer Arbeit sein, zumal vor allem Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im deutschsprachigen Raum bisher selten in beruflichen Feldern als politische Akteurinnen* und Entscheidungsträgerinnen* arbeiten. Das führt dazu, dass das Leben und die Perspektiven von Menschen mit Behinderungserfahrungen in der politischen Arbeit nach wie vor wenig selbstverständlich sind. Die Konsequenzen dieser andauernden Unsichtbarkeit werden auch in der Zeit der Corona-Pandemie deutlich, in der »Menschen mit Behinderung vergessen [werden, d.A.]« (EU-Schwerbehinderung 2020). Darauf deutet auch ein Beispiel aus Sachsen hin: Im Zuge der Corona-Krise und der damit verbundenen Maßnahmen der Schließungen von Schulen, Kindertageseinrichtungen und vielen Arbeitsstätten titelt die Leipziger Volkszeitung: »Um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, wurden Kitas und Schulen geschlossen. Doch 1500 Menschen mit Behinderungen, die in geschützten Werkstätten in Leipzig arbeiten und als besonders gefährdet gelten, sind bislang durchs Raster gefallen. Sie arbeiten weiter, als gäbe es Corona nicht« (Leipziger Volkszeitung am 18.03.2020). Im Artikel wird darauf verwiesen, dass durch die Bedingungen in den Werkstätten bis hin zu den täglichen Anfahrten in den Kleinbussen der Fahrdienste adäquate Schutzmaßnahmen kaum möglich sind, die Arbeiterinnen* jedoch zum großen Teil einer sogenannten Risikogruppe angehören. Die vergleichsweise lange und riskante Aufrechterhaltung des Werkstattbetriebes kann ein Zeichen dafür sein, dass »sowohl die Menschen mit Behinderungen als auch die Betriebe sträflich im Stich gelassen werden« (Pellmann in: MDR-Sachsen am 20.03.2020). Sie kann aber auch zumindest teilweise eine Reaktion auf die drohenden Belastungssituationen in den Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung sein, in denen viele der Werkstattangestellten* wohnen. Die Belastung liegt dabei sowohl auf Seiten der Mitarbeiterinnen* als auch auf Seiten der Bewohnerinnen*, die nun mit einer verschärften Exklusion konfrontiert sind. Vielerorts dürfen sie aufgrund ihres (vermeintlichen) Risikostatus die Einrichtungen nicht verlassen.
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