Um über Menschenbilder im Kontext inklusiver Pädagogik zu sprechen, scheint es demnach unabdingbar, die derzeitige gesellschaftliche Grundausrichtung zu umreißen. Dies kann angesichts der Vielfalt an gesellschaftlichen Strömungen und ihrem stetigen Wandel in der Komplexität an dieser Stelle nicht hinreichend erfolgen. Zu betonen ist jedoch, dass die Ambivalenzen, die sich in der Menschenbilddarstellung des Grundgesetzes zeigen 40 , sich auch in der Gesellschaft widerspiegeln.
Wilhelm (2017) setzt sich intensiv mit der Relevanz von Menschenbildern in Schule und Unterricht vor dem Hintergrund der Inklusion auseinander. In ihren Darstellungen eines inklusiven Menschenbildes, welches ein ganzheitliches und integrales Menschenbild darstellt, wird jeder Mensch unabhängig von seinen Leistungen als vollwertig betrachtet und ist gleichzeitig dazu verpflichtet, jeden anderen als gleichberechtigt anzuerkennen (vgl. Wilhelm 2017). Wertschätzung, Anerkennung und Achtsamkeit hält sie für bedeutende Begriffe in einem inklusiven Menschenbild. Sie betont besonders die Dialoghaftigkeit des Menschen, der auf Kooperation und Kommunikation angewiesen ist und sich nur in diesem Dialog mit seiner Umwelt zu sich selbst entwickelt. Dieser Argumentation folgend, hat jeder Mensch das Recht auf Teilhabe und Nichtaussonderung (vgl. ebd.). Wilhelm weist zwar darauf hin, dass verschiedene Rechtsgrundlagen (UN-BRK, Kinderrechte, Rechte für Menschen mit Behinderung) diese Rechte auch und in besonderem Maße für Menschen mit zugeschriebener Behinderung einfordern und damit eine Wertgrundlage beinhalten, welche ein inklusives Menschenbild unterstützen. Gleichzeitig macht sie aber auch deutlich, dass es sich bei diesen Wertvorstellungen um eine gesellschaftliche Normvorstellung und eben nicht um die Werthaltung der gesellschaftlichen Subjekte handelt, die durch eine Vielzahl an unterschiedlichen gesellschaftlichen Normvorstellungen geprägt sind (vgl. ebd.).
Wenn die pädagogische Praxis dazu beitragen will, die gesellschaftliche Grundausrichtung im Sinne einer Zuwendung/Akzeptanz von Inklusion zu verändern, so muss sie sich in einem ersten Schritt mit den Menschenbildern ihrer Akteurinnen* auseinandersetzen, weil pädagogisches Handeln sich immer an den subjektiven Theorien von Menschenbildern orientiert (vgl. Wilhelm 2017). An dieser Stelle möchten wir auf eine Aussage des Bildungs- und Inklusionsreferenten Tom Hoffmann 41 verweisen, der folgendes Verständnis eines »Inklusiven Menschenbildes« formuliert:
»Wie müssen Menschen sein, damit Inklusion gelingen kann? […] Wir müssen von Anfang an lernen, dass wir alle verschieden sind. Damit können die Menschen lernen, mit anderen Menschen ohne jegliche Diskriminierung klarzukommen. […] Wir müssen auch mal langsam akzeptieren, dass unsere Gesellschaft immer vielfältiger wird, also sollten wir langsam auch damit aufhören, Menschen in Gruppen aufzuteilen. Wenn wir das berücksichtigen, dann kann ich von einem inklusiven Menschenbild sprechen« 42 .
Eine Disziplin, welche die Vorstellungen vom Menschen und insbesondere von Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren zum Teil entscheidend mitgeprägt hat, ist die Biomedizin. Denn Bauer (2017) zufolge boomen die Themen Bioethik und Biopolitik und sind regelmäßig in den Medien wie Fernsehen, Hörfunk und Zeitung vertreten. Im folgenden Abschnitt sollen deshalb Entwicklungen in der Bioethik und ihre Bedeutung für die Pädagogik im Kontext zugewiesener geistiger Behinderung beleuchtet werden (vgl. Bauer 2017).
2.3 Bioethische Entwicklungen und Einflüsse
»Bioethik analysiert und bewertet den wissenschaftlich vermittelten Umgang mit Leben« (Sturma 2015, 1). Sie ist eine Teildisziplin der angewandten Ethik; erste Diskussionen aus diesem Feld können im deutschsprachigen Raum in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts verankert werden (vgl. Sturma 2015). Die Bioethik beschäftigt sich mit verschiedenen Disziplinen 43 , von welchen im Kontext dieser pädagogischen Auseinandersetzung jedoch nur die Medizinethik betrachtet werden soll.
Wie bereits erwähnt, haben unter anderem die Entwicklungen in der Biomedizin durch neue Technologien und die damit verbundenen bioethischen Diskussionen zu einer erneuten und lange Zeit vernachlässigten Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und Grundsätzen in der Pädagogik für Menschen mit Behinderung geführt. Um diesen Auseinandersetzungen nachgehen zu können, bedarf es vorerst einer kurzen Beschreibung der relevanten medizintechnischen Weiterentwicklungen.
Weiterentwicklungen im Bereich der Reproduktionsmedizin
Ein heute schon sehr etabliertes und weniger kritisch hinterfragtes Verfahren der Reproduktionsmedizin ist die In-vitro-Fertilisation (IVF) als eine Form der künstlichen Befruchtung, die erstmals 1978 erfolgreich durchgeführt wurde. Bei allen möglichen Schwierigkeiten der IVF (vgl. Dellbrügger & Denger 2005) hat sie zum Ziel, es Paaren zu ermöglichen, ein leibliches Kind zu bekommen, oder Frauen die Möglichkeit zu eröffnen, ein eigenes Kind auch selbst auszutragen. Die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik (PND) also zur vorgeburtlichen Diagnostik haben sich seit den 1930er Jahren stetig weiterentwickelt. Heute gängige Verfahren können in invasive und nicht-invasive Verfahren unterschieden werden. Zu den nicht-invasiven Möglichkeiten der PND zählen u. a. die unterschiedlichen Ultraschallvarianten, die Nackentransparenzmessung, die Fetometrie, aber auch Messungen von Hormonkonzentrationen im mütterlichen Blut (z. B. Triple-Test) oder der Präna-Test, der fetale Zellen aus dem Blut der Mutter extrahiert und analysiert. All diese Verfahren greifen nicht in den Körper ein und haben das Ziel, Abweichungen von der normalen Entwicklung des Fetus/Embryos aufzuspüren.
Für die werdende Mutter bestehe so die Möglichkeit, Ängste in der Schwangerschaft abzubauen und so dem werdenden Leben eine bessere erste Entwicklungsphase zu gewährleisten. Zum Anderen sei es der werdenden Mutter dadurch möglich, sich gedanklich auf eine eventuelle Beeinträchtigung ihres Kindes einzustellen (vgl. Goldbach 2014).
Dass jedoch der zweite Fall relativ selten eintritt, weil Eltern sich nach festgestellter Beeinträchtigung zumeist gegen das werdende Kind entscheiden (vgl. Graumann 2010), macht ein Problem der PND deutlich: Für eine Vielzahl an pränatal gestellten Diagnosen steht bisher keine Therapie in Aussicht, sodass werdenden Eltern allein die Abtreibung als mögliche ›Therapie‹ zur Verfügung steht (vgl. Krones 2014). Berücksichtigt man dabei außerdem die trotz allem bestehen bleibenden Fehlerraten, die je nach genutztem Verfahren unterschiedlich hoch ausfallen (vgl. Krampl-Bettelheim 2014), muss die Praxis der PND auch aufgrund dessen kritisch hinterfragt bleiben. Spätestens zur Überprüfung eines möglichen Fehlers im nicht-invasiven Verfahren bedarf es dann des Einsatzes einer invasiven Diagnosemethode. Diese können bspw. Chorionzottenbiopsie oder Amniozentese sein, welche jedoch mit einer Fehlgeburtsrate von bis zu 1 % ein deutliches Risiko darstellen (vgl. Krones 2014). Ein weiteres Verfahren in der vorgeburtlichen Diagnostik ist die Präimplantationsdiagnostik, welche die in-vitro befruchtete Eizelle nach ihrer Verschmelzung noch vor der Einpflanzung in die Gebärmutter auf genetische Besonderheiten hin untersucht. Damit wird es möglich, nur jene befruchteten Eizellen in den Körper der Frau zu injizieren, welche keine genetischen Auffälligkeiten zeigen. Nachdem die PID in Deutschland lange Zeit aufgrund des Embryonenschutzgesetz (EschGe) verboten war, wurde 2011 nach immer stärker werdendem Druck aus der Humangenetik und Bundesärztekammer das Präimplantationsdiagnostikgesetz (PräimpG) vom Deutschen Bundestag beschlossen (vgl. Kress 2012). Demnach ist die PID für zukünftige Eltern vorgesehen, die selbst erblich vorbelastet sind und bei denen zu erwarten ist, dass aus diesen genetischen Abweichungen Fehlgeburten oder schwere Erbkrankheiten und Tod für das Kind resultieren können 44 . Somit kann für Paare, die ohnehin das Risiko auf einen vererbbaren Gendefekt in sich tragen, eine ›Schwangerschaft auf Probe‹ verhindert werden (vgl. Klinkhammer & Richter-Kuhlmann 2011). Die Praxis der PID ist jedoch auf einzelne PID-Zentren in Deutschland beschränkt und wird als Einzelfallentscheidung durchgeführt. Dies bedeutet, dass für jede PID eine ethische Begutachtung erforderlich ist 45 .
Читать дальше