Diese sehr drastischen Schlussfolgerungen aus den soweit schlüssigen ethischen Überlegungen Singers verdeutlichen, dass eine Kopplung des Personenbegriffs an Bedingungen wie Selbstbewusstsein, Vernunfts- und Entscheidungsfähigkeit sowie Sinn für Vergangenheit und Zukunft etc. vor dem Hintergrund einer inklusiven Gesellschaftsentwicklung höchst problematisch und nicht zielführend ist.
Spaemann möchte in Folge der ethischen Auseinandersetzungen Singers die Selbstverständlichkeit, dass alle Menschen gleichermaßen moralisch zu berücksichtigen sind (vgl. Jantschek 1998), am Personenbegriff neu diskutieren. Für ihn steht fest, dass allein das Kriterium der biologischen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch als Kriterium für Personalität ausreicht (vgl. Spaemann 2006). Damit wendet sich Spaemann von einem empirischen, an messbaren Eigenschaften festgelegten, Personenbegriff ab. Er macht deutlich, dass die Anerkennung des Menschen als Person nur dann wirklich dem Menschen selbst und seinem menschlichen Kern gilt, wenn sie unabhängig von seinen Eigenschaften erteilt wird, da sich die Anerkennung andernfalls nur auf ihn mit seinen Eigenschaften bezieht, welche er unter Umständen eben auch verliert und somit nicht mehr anerkannt würde (vgl. Spaemann 1998, 2006).
Dederich, der auch Bezug auf Spaemann nimmt, hält fest, dass Personalität Wurzeln in der Leiblichkeit hat (vgl. Dederich 2000). Damit schließt er sich einem leibphänomenologischen Zugang zum Personenbegriff an (vgl. Dederich 2000). Als Gegenargument zum empirischen Personenverständnis argumentiert er, dass die gesamte Entwicklung des Menschen kontinuierlich verläuft und es keine Zäsuren gibt, die rechtfertigen würden, zu verschiedenen Zeitpunkten der Entwicklung verschiedene moralische Maßstäbe anzusetzen.
Bewusstsein bedeutet für Dederich, wie für andere Autoren (z. B. Salzberger 2008; Merleau-Ponty 1966), leiblich in der Welt zu sein, diese Welt mit dem Leib wahrzunehmen und sich bewusst zu machen. Neben der leibphänomenologischen Perspektive auf das Personsein verweist Dederich darauf, dass Personalität sich immer in Relationalität äußert (vgl. Dederich 2000). Der Mensch ist immer in Beziehung, von Anfang an sozial eingebunden und auf seine Umwelt bezogen.
»Ein solch relationaler Personenbegriff ist der Einsicht verpflichtet, daß der Mensch immer schon auf Andere bezogen ist. Personalität ist von hier aus gesehen eine basale Eigenschaft des Menschseins […] und wird nicht an bestimmte vorausgesetzte Eigenschaften […] geknüpft« (ebd., 151).
Der Mensch ist demnach immer ein Jemand, der mir und seiner Umwelt in menschlicher Gestalt begegnet, ein Jemand und kein Etwas und damit ein Jemand, über den nicht wie eine Sache verfügt werden kann.
2.4 Ausgewählte ethische Aspekte
Im Folgenden wird ein kurzer Einblick in eine Auswahl relevanter ethischer Aspekte erfolgen, welche auch vor dem Hintergrund einer inklusionsorientierten Ethik in der Behindertenpädagogik beleuchtet werden. In Abbildung 2 sind die ausgewählten ethischen Aspekte in ihren Zusammenhängen für die pädagogische Praxis dargestellt. Es wird deutlich, dass sich pädagogisches Handeln immer in einem Spannungsfeld von verschiedenen Machtverhältnissen bewegt und dass die pädagogische Praxis als zwischenmenschlicher Prozess von verschiedenen Bedingungsfaktoren abhängig ist. An dieser Stelle wird auf Achtsamkeit/Fürsorge, Fremdheit, Vertrauen, Anerkennung und Abhängigkeit als eben solche Bedingungsfaktoren eingegangen. ›Gelingende‹ pädagogische Prozesse haben so das Ziel, das Subjekt zu einer größtmöglichen Selbst- und Mitbestimmung im allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenleben zu befähigen.
Abb. 2: Relevante, ausgewählte ethische Aspekte für eine Pädagogik im Kontext zugeschriebener geistiger Behinderung
Menschenwürde und Gerechtigkeit
»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt« (Art. 1 Abs. 1 GG).
Der Begriff der Menschenwürde ist ein sowohl rechtlich als auch ethisch höchst relevanter Begriff, welcher jedoch in seiner Konkretheit häufig unscharf bleibt. So hat er in seiner Entwicklung unterschiedliche Bedeutungen eingenommen (vgl. Huber 2000; Goldbach 2014; Schaber 2011). Die ursprüngliche Kopplung von Würde an Ämter und Herkunft wurde später kritisiert und mit Blick auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen dem menschlichen Sein insgesamt zugesprochen (vgl. Schardien 2004). Erst der moderne Menschenwürdebegriff versteht sich als ein zu erhebender Anspruch auf die Achtung dieser Würde, die nicht verletzt werden darf. Damit erfolgt die Definition von Menschenwürde zumeist aus der Perspektive ihrer möglichen Verletzung. Unter anderem Dederich fasst eine Vielzahl an Würdeverletzungspotentialen insofern zusammen, als dass er sagt, dass Menschen oder Gruppen in Folge von Gewalterfahrungen unterschiedlichster Art auf ethisch nicht hinnehmbare Weise Schaden nehmen können (vgl. Klauß 2019; Dederich 2019). Im Kontext bioethischer Auseinandersetzungen wird auf die Verletzung der Würde durch eine Verzwecklichung des Menschen hingewiesen, womit auf eine Formulierung aus Kants Ethik zurückgegriffen wird (vgl. Martini 2006). Im Grundgesetz gilt die Menschenwürde als Fundament aller weiteren Grundrechte. Jedoch bleibt sowohl eine inhärente Definition des Menschenwürdebegriffes als auch die Frage danach, wem Würde zuzusprechen ist, vage und wird vor dem Hintergrund verschiedener Grundannahmen unterschiedlich diskutiert (vgl. Schaber 2011; Dreier 2005). Während manche Autorinnen* Menschenwürde allen allein deshalb zuschreiben, weil sie Menschen sind (vgl. Dederich 2019; Schaber 2011), knüpfen andere das Zusprechen von Menschenwürde an die Voraussetzung der Erfüllung unterschiedlicher personaler Kriterien (siehe vorangegangener Abschnitt).
Inwiefern jedoch das Konstrukt der Menschenwürde in Verbindung mit Gerechtigkeit zu verstehen ist, kann anhand des Menschenwürdebegriff Dreiers verdeutlicht werden: Dreier konstatiert für den heutigen Menschenwürdebegriff, dass dieser »[…] im Kern den gleichen Freiheits- und Rechtestatus aller Menschen und deren unveräußerlichen Achtungsanspruch gegenüber der staatlichen Gewalt verbürgt« (Dreier 2005, 168). Mit dieser Definition Dreiers kann an den Gerechtigkeitsbegriff Rawls angeschlossen werden, der in seinen Schriften zu Gerechtigkeit und Fairness ein Verständnis von Gerechtigkeit entwirft, welches in seinen Prinzipien darauf fußt, dass jedem Menschen die umfangreichsten gleichen Freiheitsrechte zukommen, die möglich sind, ohne den anderen einzuschränken. Ungleichheiten sind für Rawls prinzipiell willkürlich und nur dann zulässig, wenn sie jenen den meisten Vorteil verschaffen, die am wenigsten begünstigt sind (vgl. Rawls 1958). Es ist die Aufgabe des Staates, der Gesetzgebung sowie der Institutionen, gerecht zu sein. Dabei ist die Fokussierung von Gerechtigkeit auf ein mögliches Einklagen individueller Rechte erst in jüngerer Zeit entstanden (vgl. Sturma 2015). Gerechtigkeit wird demnach in diesem Sinne als ein faires Realisieren der Rechtsansprüche einer jeden Person verstanden. »Gerechtigkeit bezeichnet somit in der aktuellen Debatte die korrekte Anerkennung, den adäquaten Schutz und die stimmige Abwägung von individuellen Rechten durch gemeinschaftliche Institutionen« (Sturma 2015, 44). Und damit kann Gerechtigkeit in diesem Sinne als die rechtlich abgesicherte Gewährleistung von Menschenwürde verstanden werden.
Dennoch bleibt der Begriff der Gerechtigkeit in seiner Konkretheit ebenso unscharf wie der der Menschenwürde, und auch in Bezug auf seine tatsächliche Realisierbarkeit muss die Umsetzung kritisch hinterfragt werden, besonders vor dem Hintergrund der Lebenswirklichkeit von Menschen mit zugeschriebener Behinderung. Um im Kontext von Partizipations- und Anspruchsrechten für Menschen mit Behinderung einen gerechten Umgang zu ermöglichen, bedürfe es einer Gesellschaft, die nicht stigmatisiert und die Entwicklung nicht behindert, sondern im Gegenteil einer Gesellschaft, die diese Nachteile vollständig ausgleicht (vgl. Nussbaum 2010).
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