Die Antwort war ein leises Lispeln, kaum zu vernehmen. Es klang wie »Ach, bitte, lass mich heraus!«, und genau das tat ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich stellte die Schaufel beiseite, denn vor einem Kind brauchte ich ja wohl keine Angst zu haben, zog den dicken Holzstift heraus, mit dem das Käfigschloss gesichert war, und öffnete die Tür. Sofort kroch das Kind ganz geschickt rückwärts aus dem Käfig heraus, ließ sich zu Boden gleiten und richtete sich dann vor mir zu seiner ganzen Größe auf. Klein war es, aber kein Kind, sondern ein zierliches Mädchen, das in etwa mein eigenes Alter haben mochte. Im gleißenden Mondlicht sah ich, dass es nackt war und wunderschön. In seinem seltsam rot und weiß gescheckten Haar, das mich sehr an das Fell von Ninny erinnerte, klebten noch ein paar Strohhalme. Trotz seiner Nacktheit schien dieses Mädchen keine Scheu vor mir zu haben, sondern stand einfach nur da und schaute mich aus feuchten und liebevollen Augen an, während seine kleine Nase ein wenig in meine Richtung schnupperte, fast so, als wolle es damit meine Witterung aufnehmen.
»Wie bist du in den Käfig hineingekommen?«, brachte ich irgendwie heraus, und: »Wo ist denn Ninny?«
»Aber ich bin Ninny«, sagte das Mädchen mit seinem allerliebsten Lispeln. Als es sprach, konnte ich sehen, dass seine Schneidezähne länger und kräftiger waren als die eines normalen Menschen, sodass seine Zunge beim Sprechen immer ein wenig daran anstoßen musste.
Mit einem Mal wurde mir klar, dass es sich bei diesem wunderschönen Wesen wirklich um das dritte Kaninchen handelte, das zusammen mit den beiden anderen normalerweise den Käfig bewohnte. Die beiden anderen mochten ganz gewöhnliche Kaninchen sein, aber dies hier war etwas ganz Besonderes, ein Wunder der Natur, ein Werkaninchen.
Unwillkürlich trat ich einen Schritt näher und strich Ninny behutsam über den Kopf. Ihr Haar fühlte sich weich und ganz seidig an, genau wie Kaninchenfell. Und Ninny schmiegte sich so zutraulich an mich, wie sie es schon in ihrer Existenzform als Kaninchen getan hatte, rieb ihr Näschen an meiner Wange und knabberte ein bisschen mit ihren kräftigen Zähnen an meinem Ohr. Ihr Atem war süß und roch nach Heu und Stroh und vielleicht ein bisschen nach Mohrrüben.
Ganz hinten im Stall lag ein Haufen Stroh zum Auspolstern der Käfige, und dorthin führte sie mich oder ich sie, genau vermag ich das heute nicht mehr zu sagen … Sie erzählte mir, dass sie sich immer nur bei Vollmond für ein paar Stunden in ein Menschenmädchen verwandele, von Mondauf- bis Monduntergang. An die Wochen zwischen diesen Verwandlungen aber könne sie sich nur schemenhaft erinnern, da sie in dieser Zeit eben nur ein Tier sei, ohne klares Zeitempfinden, ohne Sprache und ohne all die anderen höheren Denkfunktionen, die das Wesen eines Menschen ausmachten. Was ihr aber im Gedächtnis geblieben sei, das seien meine Liebkosungen, und diese wolle sie nun noch einmal erleben, doch diesmal in ihrer Gestalt als Mensch, sodass sie sich zumindest alle vier Wochen, wenn sie sich für eine Nacht wieder in einen Menschen verwandele, endlich ganz genau daran erinnern könne.
So verbrachten wir die Nacht zusammen im Stroh, und ich entdeckte, dass ihr auch noch an anderen Stellen ihres Körpers Überreste vom Fell ihrer Kaninchenexistenz geblieben waren: wie ein Flaum unter den Achselhöhlen und, ganz besonders zart, als kleines Stückchen Fell ganz versteckt tief drunten zwischen ihren überraschend kräftigen Schenkeln.
Schließlich ging die Nacht zu Ende, und sie bat mich mit ihrem süßen Lispeln, ihr wieder in den Käfig zurückzuhelfen, denn ihre Rückverwandlung stehe unmittelbar bevor. Also verschränkte ich meine Hände zu einer Räuberleiter, und sie stieg hinauf und kroch in den Käfig zu den beiden anderen Kaninchen zurück. In diesem Moment verschwand die obere Wölbung des Vollmonds hinter dem Horizont, und ihre Verwandlung setzte ein.
Wie soll ich diesen Vorgang beschreiben? In der einen Sekunde war sie noch ein Mensch, in der nächsten wieder ein Kaninchen, ganz ohne jene merkwürdigen und oft schmerzhaften Zwischenstufen, wie man sie aus erfundenen Geschichten über Werwölfe oder andere Wertiere kennt. Nur in ihren Augen meinte ich noch einen Funken von intelligentem Erkennen zu sehen, aber dann erlosch auch der, und sie war wieder »nur« ein Tier. Ich streichelte noch einmal ihr rot-weißes Fell, was sie sich gern gefallen ließ, reichte ihr eine Mohrrübe und verschloss den Käfig wieder mit dem Holzstift.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kam mir mein nächtliches Erlebnis zunächst wie ein Traum vor. Aber ich hatte immer noch ein paar Strohhalme in den Haaren, die ich natürlich sorgfältig abzupfte, bevor ich mich zu meinen Eltern an den Frühstückstisch setzte; andernfalls hätten sie mich bestimmt gefragt, wo ich mich in der Nacht herumgetrieben hatte. Direkt nach dem Frühstück eilte ich hinunter zum Kaninchenstall, und dort fand ich das Stroh an der Rückwand des Schuppens so zerwühlt vor, wie ich es von letzter Nacht her in Erinnerung hatte. Ninny war auch schon wach, tollte mit den beiden anderen Kaninchen in ihrem Käfig umher, und als ich das Stroh auf dem Käfigboden durch frisches ersetzt hatte und sie und die anderen mit Heu, Mohrrüben und einer Handvoll Klee fütterte, die ich auf dem Weg zum Kaninchenstall ausgerupft hatte, weil ich wusste, dass es ihre Lieblingsspeise war, da wirkten ihre Augen so tierhaft und stumpf wie eh und je vor ihrer nächtlichen Verwandlung in einen Menschen. Also war es vielleicht doch nur ein Traum gewesen.
Sie können sich vielleicht vorstellen, wie ich dem nächsten Vollmond entgegenfieberte. Eigentlich hatte ich Sommerferien, jene Zeit also, von der man als Kind hofft, dass sie nie vorübergeht, weil an ihrem Ende der trübe Schulalltag erneut beginnt, aber diesmal konnten die Tage nicht schnell genug verstreichen. Die Spiele mit meinen Freunden, das Herumstreifen im Wald, das Baden in den stillen Teichen nahebei und das Angeln am Bach hatten überhaupt keinen Reiz für mich, was die Freunde erst mit einem amüsierten Kopfschütteln und dann mit zunehmender Gereiztheit und Ablehnung quittierten. Nach den ersten Tagen traf ich mich gar nicht mehr mit ihnen und hielt mich im Grunde nur noch in der Nähe des Kaninchenstalls auf, wo ich mich fast die ganze Zeit über mit Ninny beschäftigte, die von Tag zu Tag immer zutraulicher wurde.
Manchmal nahm ich sie aus dem Käfig und ließ sie, natürlich erst, nachdem ich unseren Hund in seinen Zwinger gesperrt hatte, frei auf dem Platz vor dem Schuppen herumlaufen. Wenn ich dann ihren Namen rief, spitzte sie die Ohren und kam zu mir herübergehoppelt, um ihre aufmerksam schnuppernde Nase an meiner Handinnenfläche zu reiben. Dass diese Berührung mich insgeheim in höchste Ekstase versetzte, vermochten meine Eltern natürlich nicht zu ahnen.
Trotzdem mochte mein seltsames Verhalten ihnen Sorge bereiten, aber sie ließen mich warum auch immer gewähren, wofür ich ihnen damals sehr dankbar war. Vielleicht dachten sie ja, ich spielte Zirkusdompteur oder dergleichen. Wäre ich nur ein wenig älter gewesen, hätte ich von ihnen vielleicht die Erlaubnis erbeten, in die nächstgrößere Stadt fahren zu dürfen, um dort in der Bibliothek nach Büchern über Werwölfe und andere Wertiere zu stöbern, aber zum einen war ich nie ein großer Leser, und zum anderen war die Stadt so weit entfernt, dass es in der damaligen Zeit für einen Dreizehnjährigen nicht ganz einfach gewesen wäre, allein dorthin zu gelangen.
Also nahm ich das Wunder – wenn es sich denn tatsächlich ereignet hatte, woran ein Teil meines Verstandes immer noch zweifelte – einfach ohne jede Erklärung hin und nahm es als das, was es offensichtlich auch gewesen war: nämlich ein Akt unbegreiflicher Magie, der ohne mein Zutun geschehen war und mein Leben von Grund auf verändert hatte.
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