Karl-Ulrich Burgdorf
und andere unwahrscheinliche Geschichten
Außer der Reihe 54
Karl-Ulrich Burgdorf
DER SCHÄMS-SCHEUSS-VIRUS
und andere unwahrscheinliche Geschichten
Außer der Reihe 54
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: März 2021
p. machinery Michael Haitel
Neuausgabe in neuer Rechtschreibung des 2016 in der Westfälischen Reihe erschienenen Werkes.
Titelbild: Rainer Schorm
Autorenfoto: Matthias Holtz
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Korrektorat & Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p. machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www. p machinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 226 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 869 2
Für Roswitha
Im Jahre 1817 formulierte der englische Poet, Literaturkritiker und Philosoph Samuel Taylor Coleridge seine damals vollkommen neuartige Theorie von der »willing suspension of disbelief« – neuartig deshalb, weil hier zum ersten Mal in der Literaturgeschichte die aktive Rolle des Lesers bei der Rezeption eines fiktionalen Werkes thematisiert wurde. Coleridge versuchte zu erklären, wieso es möglich sei, dass das Wissen eines Lesers um die fiktionale Natur des Erzählten sich nicht störend auf seinen durch die Lektüre erstrebten Kunstgenuss auswirke. Laut Coleridge ist dies darin begründet, weil der Leser sich dem Kunstwerk gegenüber nicht rein passiv verhält. Auch wenn es ihm vielleicht nicht bewusst ist, so willigt der Leser doch letztlich aktiv darin ein, seinen Unglauben wenigstens vorübergehend hintanzustellen und die vom Autor gemachten Vorgaben, mögen sie auch noch so unwahrscheinlich oder gar unmöglich sein, wenigstens für die Zeit der Lektüre für bare Münze zu nehmen. Tut er dies, so wird er gleichsam zum Komplizen des Autors und gewinnt dadurch die Möglichkeit, Vergnügen an der Lektüre zu empfinden – immer vorausgesetzt natürlich, dass das, was er da liest, ihm auch gefällt. Gefällt es ihm nicht, nützt auch die schönste »willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit« nichts.
Die Aufgabe (oder, wenn Sie so wollen: die Kunst) des Autors bestünde demzufolge darin, dem Leser diese erhoffte und erwünschte Eigenleistung durch die Art der Darstellung so weit wie möglich zu erleichtern.
Bei umfangreichen Romanen oder gar bei Romanserien ist dies vergleichsweise einfach. Hier hat der Autor die Möglichkeit, seine Prämissen über Hunderte, wenn nicht Tausende von Seiten durch immer neue Details anzureichern und sie dadurch in zunehmendem Maße plausibel zu machen. Zudem stellt sich beim Leser natürlich auch ein Gewöhnungseffekt ein – er erkennt die Personen und die Welt, in der sie agieren, bei jedem neuen Lektüreakt wieder und fühlt sich darum rasch in einem solchen Kosmos daheim. Bei Kurzgeschichten ist das anders. Man kann nicht einfach in die längst vertrauten Szenerien hineinschlüpfen wie in einen bequemen, über die Jahre hinweg immer mehr ausgelatschten Hausschuh. Denken Sie nur an die ewig gleichen Ermittlerteams in den heute so beliebten Fernsehkrimis und Kriminalromanen oder, um in der Fantastik zu bleiben, die liebevoll ausgestaltete Fantasy-Welt von Mittelerde beim Herrn der Ringe oder die fantastische Beinahe-Parallelwelt, in der Harry Potter seine magischen Abenteuer erlebt. Nimmt man solche Bücher zur Hand, setzt sofort nach den ersten Sätzen ein Wiedererkennungseffekt ein – und mit ihm ein wohliges Behagen am Altvertrauten. Ich habe das an mir schon oft beobachtet. Sie vielleicht ja auch an sich.
Bei Kurzgeschichten hingegen muss der Leser – also Sie – sich alle paar Seiten auf völlig neue Gegebenheiten, völlig neue Prämissen einstellen, die sich in der Regel sogar untereinander widersprechen. Das ist natürlich nicht bequem, denn es erfordert eine hohe Flexibilität und eine besondere Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die fantastische Kurzgeschichte nach einer Blütezeit, die viele Jahrzehnte währte und noch bis in die 1980er-Jahre andauerte, heute eher ein Schattendasein fristet. Manchen Autor mag das abschrecken; andere fordert es vielleicht heraus.
Hier also sind dreißig unwahrscheinliche Geschichten aus allen nur möglichen Bereichen der Fantastik – Science-Fiction, Fantasy, Weird Fiction (in Deutschland gerne auch »Horror« genannt), Märchen oder Fabeln – mit denen ich Ihre Flexibilität auf die Probe stellen und Ihre Imagination herausfordern möchte. Wenn Sie nicht bereit sind, sich darauf einzulassen, sollten Sie dieses Buch besser gleich wieder zuklappen und sich stattdessen lieber den nächsten Fünfhundert-Seiten-Fantasy-Schmöker aus der Buchhandlung Ihres Vertrauens besorgen. Ich würde es Ihnen nicht verübeln. Wenn Sie sich aber auf diese kurzen – und manchmal sehr kurzen – Geschichten einlassen und dem Unwahrscheinlichen durch Ihre Mitwirkung Wahrscheinlichkeit verleihen, werden Sie vielleicht ein ähnlich großes Vergnügen dabei empfinden wie ich, als ich diese Geschichten für Sie und für mich selber schrieb.
Karl-Ulrich Burgdorf
Noch zehn Minuten bis zum Auftritt.
Den Hut weit in den Nacken zurückgeschoben, saß Nick Corvin, Leadsänger der Band The Screaming Androids , in seiner Garderobe und dachte über die Widrigkeiten des Schicksals nach.
Diese Widrigkeiten bestanden vor allem darin, dass die Karriere der Band gerade einen gewaltigen Absturz erlebte. Was, zum Teufel, mochte die Ursache dafür sein?
Schließlich hatten sich ihre ersten beiden CDs verkauft wie guter Shit, und die Zahl ihrer Fans ging überall auf der Welt in die Millionen. Ihre dritte, unter größtem Aufwand produzierte CD hingegen lag wie Blei in den Regalen der Plattenläden. Die Klickzahlen für das neue YouTube-Video der Band bewegten sich nicht mehr im sechs-, sondern nur noch im vierstelligen Bereich, und auch die soeben begonnene Tournee hatte sich bereits nach den ersten Konzerten als Riesenflop erwiesen. Die vorab gebuchten Hallen und Arenen waren nicht einmal zur Hälfte gefüllt, das Publikum reagierte, wenn überhaupt, dann eher mit abfälligen Pfiffen auf die neuen und sogar auf viele der alten Stücke, obwohl die Band sie mit genau so viel Energie herunterschrammelte wie früher, und jetzt hatte auch noch ihr Manager angedeutet, dass sie die Tournee wohl entweder abbrechen oder aber die verbleibenden Auftritte wenigstens in kleinere Säle und Clubs verlegen mussten, um auf diese Weise doch noch zu retten, was vielleicht schon gar nicht mehr zu retten war.
Allein der Gedanke, sich in diesem Falle wieder eine gemeinsame Garderobe mit den anderen Musikern der Band teilen zu müssen, war für Nick Corvin unerträglich. Vor den Auftritten wollte er allein sein, um sich ohne unliebsame Zeugen jenen allabendlichen Schuß zu setzen, den er unbedingt brauchte, um dadurch in Höchstform für das anstehende Konzert zu kommen. Und nach dem Konzert benötigte er sie als Rückzugsraum, um mit seinen Groupies jene legendären – oder, wie manche Journalisten schrieben, berühmt-berüchtigten – Privatpartys feiern zu können, bei denen die anderen Bandmitglieder nur gestört hätten.
Aber so viele Groupies kamen seit Beginn dieser Tournee ja auch nicht mehr in seine Garderobe …
Von diesem Gedanken noch mehr deprimiert, griff Nick Corvin in die Schublade seines Frisiertisches und kramte mit zitternden Fingern das Spritzenbesteck heraus. Einen Augenblick später, als das Gift in seine Venen strömte, ließ das Zittern sofort wieder nach, seine Haut hörte auf zu jucken, und er fühlte er sich wieder stark und unbesiegbar. Jetzt konnte die Welt kommen! Denen da draußen, dem Pöbel im Zuschauerraum, würde er es heute Abend schon zeigen! Er würde singen wie Orpheus, oder wie Tom Waits oder doch wenigstens wie Bob Dylan, und dann würden sie ihm wieder zu Füßen liegen, die CD-Verkäufe würden von Neuem anziehen, und …
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