Genau in diesem Augenblick klopfte es an der Garderobentür.
O verdammt! Sein Manager? Oder, was noch viel schlimmer wäre, die Polizei? Angesichts ihrer derzeitigen Pechsträhne ließ sich selbst das wohl nicht ausschließen. Mit einer fahrigen Bewegung löste Nick Corvin die Lederschlaufe von seinem Oberarm, warf die gebrauchte Spritze mitsamt Zubehör in die Schublade zurück und zog den Ärmel herunter. Dann schnauzte er ein mürrisches »Herein!«
Die Tür ging auf, und ein Mann trat ein, den Nick Corvin noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Wahrscheinlich jemand von der Hallenorganisation. Oder, im schlimmsten Falle, ein Reporter, der es irgendwie geschafft hatte, sich backstage Zutritt zu verschaffen. Für einen Fan sah der Kerl jedenfalls entschieden zu alt aus. Obwohl, wenn er es recht bedachte: Eigentlich konnte er gar nicht sagen, wie sein Besucher nun eigentlich genau aussah. Schaute man einen Augenblick lang weg und dann wieder hin, schienen sich seine Konturen jedes Mal ein wenig verändert zu haben … Vielleicht, dachte Nick, war der Stoff doch nicht so hundert Prozent rein gewesen, wie sein Dealer behauptet hatte? »Was gibt’s?«
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte der Besucher freundlich. »Ich habe nämlich davon gehört, dass Sie im Moment gewisse … Schwierigkeiten haben, und da dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht behilflich sein.«
»Hä?«
»Es ist Ihr Hut«, sagte der Besucher und deutete mit einem ausgestreckten Finger darauf. »Ich fürchte, er hat seine Magie verloren, und darum benötigen Sie dringend einen neuen, damit Sie und Ihre Band wieder den Erfolg haben, der Ihnen zusteht.«
Unwillkürlich griff Nick Corvin nach dem Hut auf seinem Kopf und schob ihn ein wenig weiter nach vorne, Richtung Stirn. Sicher, den Hut trug er seit Beginn seiner Karriere bei all seinen Konzerten. Er hatte sich inzwischen tatsächlich zu so etwas wie seinem Markenzeichen entwickelt, vielleicht sogar zu so einer Art persönlichem Talisman, und deshalb hatte er ihn auch bei allen YouTube-Videos der Band getragen und natürlich auch auf den Booklet-Fotos ihrer drei CDs – von den Sexorgien mit den Groupies einmal ganz zu schweigen. Aber dass der Erfolg der Band allein davon abhing …? Von einem Hut? Nein, der Kerl da vor ihm war eindeutig ein Verrückter. Zum Glück schien er wenigstens nicht bewaffnet zu sein … aber vielleicht war es trotzdem besser, die Security zu rufen?
Ein breites Grinsen – jenes etwas diabolische Jack-Nicholson-Grinsen, das seine weiblichen Fans so liebten und das die Journalisten so gerne auf ihre Fotos bannten – erschien auf seinem Gesicht. Eigentlich war die ganze Sache doch ein total irrer Spaß, jedenfalls so lange, wie der Bursche nicht allzu lästig wurde.
»Und was für einen Hut sollte ich Ihrer Meinung nach tragen?«
»Probieren Sie es doch einmal mit diesem hier.« Erstaunlich fingerfertig zauberte der Besucher wie aus dem Nirgendwo einen Hut hervor und hielt ihn Nick Corvin hin. Also doch kein Irrer, sondern ein Hutverkäufer – oder vielleicht beides zugleich? I am the mad hatter, and I’m getting fatter, if you’d like to know … Tatsächlich schien der Besucher deutlich an Volumen zuzunehmen, als Nick diese uralte Songzeile in den Sinn kam. Was aber natürlich vollkommen unmöglich war … In Nicks Kopf begann mit einem Mal alles zu verschwimmen, und benommen beugte er sich vor, um den ihm angebotenen Hut näher in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich sah er im Grunde genau so aus wie der, den er jetzt trug, nur vielleicht ein wenig flotter, eine Spur … ansprechender. Vielleicht war es gar nicht schlecht, einen solchen Hut in Reserve zu haben? Immerhin konnte es ja passieren, dass ihm der andere, der alte Hut vom Kopf geweht wurde, und er auf Nimmerwiedersehen irgendwohin verschwand … und dann würde es gut sein, einen zweiten Hut zu besitzen, denn ohne Hut auf die Bühne zu gehen, war für ihn nach all den Jahren praktisch unvorstellbar.
»Schön, sehr schön«, stammelte er. »Was soll das Teil denn kosten?«
Der Besucher sagte es ihm.
Also doch ein Irrer. Aber selbst harmlosen Irren sollte man ja ihren Willen lassen, sonst wurden sie womöglich doch noch aggressiv; jedenfalls hatte er das einmal irgendwo gelesen. Und vielleicht ließ sich die Geschichte ja später sogar zu einem geilen Songtext verarbeiten?
»Dann muss ich also wohl einen … Vertrag unterschreiben?«
»O nein!« Der Besucher hob abwehrend die Hand. »Unter Ehrenmännern wie uns ist das wirklich nicht nötig. Es reicht, wenn Sie den Hut annehmen. Damit wäre die Vereinbarung verbindlich geschlossen.«
»Also gut«, sagte Nick Corvin. »Dann geben Sie ihn schon her.«
Im nächsten Augenblick hielt er den Hut in der Hand, der Besucher war verschwunden, und an der Garderobentür klopfte es erneut. Sie öffnete sich einen Spalt, und sein Manager lugte herein. »Du musst auf die Bühne, Nick. Alles okay so weit? Du siehst ein bisschen blass um die Kiemen aus.«
»Ist schon okay.« Mit einem Achselzucken warf Nick Corvin den eben erstandenen Hut auf den Frisiertisch und folgte seinem Manager in Richtung Bühne, wo die anderen Bandmitglieder schon mit voller Power losgelegt hatten. Natürlich trug er auch diesmal wieder seinen alten Hut. Den neuen , dachte er, werde ich in Reserve behalten, für den Fall, dass der alte mir einmal abhanden kommt .
Das erste Set war ein Fiasko.
Es begann bereits damit, dass die Halle nicht einmal zur Hälfte – eigentlich höchstens zu einem Drittel – gefüllt war. Und obwohl Nick Corvin sich die Kehle heiser brüllte und die Band sich durch die Songs schrammelte wie arme Seelen in der Hölle, kam unter den spärlichen Zuhörern von Anfang an so gut wie keine Stimmung auf. Nach dem zweiten Song wanderten sogar schon die ersten ab; nach dem dritten noch mehr; und nach dem vierten Song war Nick Corvin klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Statt den fünften Song anzusagen, krächzte er bloß »Wir machen jetzt eine kleine Pause und sind dann gleich wieder für euch da« ins Mikrophon und verschwand backstage, verfolgt von den wütenden Mitgliedern der Band und den gellenden Pfiffen des Publikums. Sein Manager – der eigentlich der Manager der gesamten Band war, aber Nick dachte von ihm immer gern als »seinem« Manager – schien auch nicht sonderlich erfreut. Genauer gesagt, war er so mörderisch sauer, wie Nick es während ihrer gesamten Karriere noch nicht erlebt hatte
»Was bildest du Arschloch dir eigentlich ein?« brüllte er ihn im Gang zu den Garderoben an. »Du kannst doch nicht einfach …«
»Nur eine kleine Pause«, wiederholte Nick stur und warf die Tür seiner Garderobe hinter sich zu. Normalerweise hätte er sich jetzt einen zweiten Schuss gesetzt, um sich auf diese Weise über die schwarze Depression hinwegzuretten, die ihn angesichts ihres totalen Misserfolgs auf der Bühne überfallen hatte. Aber diesmal nicht. Stattdessen warf er seinen alten Hut achtlos in den nächsten Papierkorb und setzte sich das neue Exemplar auf, das immer noch auf dem Frisiertisch lag. Verzweifelte Situationen verlangen verzweifelte Maßnahmen . Noch einmal holte er tief Luft, dann trat er wieder aus der Garderobe und riss die Tür nebenan auf.
»So, Jungs, jetzt können wir weitermachen!«, rief er den verdutzten Mitgliedern seiner Band zu. Im nächsten Moment war er auch schon vor ihnen in Richtung Bühne gestürmt.
Bereits als er die Bühne betrat, sah er, dass die Situation sich grundlegend geändert hatte.
Offenbar war die Leere im Zuschauerraum zu Beginn des Konzerts nur darauf zurückzuführen gewesen, dass es irgendwo im Bereich der Halle einen Verkehrsstau gegeben hatte. Inzwischen hatten immer mehr Leute zu ihren Parkplätzen gefunden, und nun strömten sie in Massen durch die weit geöffneten Türen und quetschten sich in die Lücken zwischen den anderen Zuhörern. Ausverkauft mochte die Halle zwar immer noch nicht sein, aber gut gefüllt war sie jetzt allemal. Und auch die Stimmung änderte sich mit einem Schlag. Kaum hatte die Band auf ein von Nick Corvin ins Mikro gebrülltes »Now it’s showtime, folks!« die ersten Akkorde herausgehauen, als sich der Raum direkt vor der Bühne in einen Moshpit verwandelte, in dem die Leute pogten wie die Besessenen. Weiter hinten liefen La-Ola-Wellen durch den Saal, und jetzt schrien sich nicht nur Nick und der Leadgitarrist, der die zweite Stimme sang, sondern auch die begeisterten Fans drunten im Publikum vor Begeisterung die Kehle heiser.
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