Das Konzert war ein rasender Erfolg, und so blieb es auch auf dem Rest der Tournee. Die Hallen waren nicht einfach nur ausverkauft, sondern die Screaming Androids – die jetzt als Nick Corvin and the Screaming Androids angekündigt wurden – mussten regelmäßig Zusatzkonzerte geben, und selbst für die gingen die Preise der wenigen auf dem Schwarzmarkt erhältlichen Tickets sofort durch die Decke.
Die Zahl der Groupies nahm ebenfalls exponentiell zu.
Und die Qualität des Heroins auch.
Einen Wermutstropfen gab es allerdings: Die CDs der Bands lagen immer noch wie Blei in den Regalen, und auch die Download- und YouTube-Klickzahlen blieben mau.
»Das ist unmöglich«, sagte Nicks Manager kopfschüttelnd. »Eigentlich müsste sich das alles bei den Konzerten und den Kritiken jetzt verkaufen wie geschnitten Brot. Aber das tut es nicht! Warum denn nicht, verdammt noch mal? Und vor allem: Was können wir dagegen unternehmen?«
»Ich glaube, ich weiß da was«, sagte Nick. Nachdem er seinem Manager seine Idee erklärt hatte, schüttelte dieser nur den Kopf. »Das wird die Plattenfirma niemals machen«, verkündete er. »Viel zu teuer. Und außerdem werden sie dich für total verrückt halten. Meinst du denn allen Ernstes, dass es an einem Hut liegen kann?«
»Dann bezahle ich es eben selbst«, beharrte Nick. »Und für verrückt hält mich sowieso schon jeder.«
»Nun, unter diesen Bedingungen könnte ich es vielleicht irgendwie hinkriegen … aber ein Hut? «
Tatsächlich spielte die Plattenfirma mit. Ein Grafiker wurde engagiert, der in den Druckvorlagen für die CDBooklets aller bisher erschienenen Platten der Screaming Androids Nicks alten Hut mithilfe eines superteuren Bildbearbeitungsprogramms durch ein Foto des neuen ersetzte. Dann lief die große Rückrufaktion an. Alle zuvor ausgelieferten CDs wurden wieder aus den Läden abgeholt und in großen Containern in diverse CD-Werke transportiert, wo flinke Hände die Zellophan-Umhüllungen der CDs aufrissen, die alten Booklets herausnahmen und sie durch die in riesigen Stückzahlen gedruckten neuen ersetzten. Danach wanderten die CDs auf die Laufbänder einer Produktionsstraße, die die so umgerüsteten CDs noch einmal neu einschweißte und an die Auslieferung weiterleitete. Wenige Tage später lagen sie schon wieder in den Regalen der Plattenläden – diesmal allerdings nicht lange, denn die Fans rissen sie den Verkäuferinnen und Verkäufern praktisch schon in dem Moment aus den Händen, an dem die Lieferung eintraf. Zugleich wurden auch die Download-Cover verändert und die bisherigen YouTube-Videos elektronisch nachbearbeitet. Der alte Hut verschwand, der neue nahm seinen Platz ein. Von Stund an schossen die Download- und Klickzahlen in astronomische Höhen, ebenso wie Nick Corvins Bankkonto, da sein Manager den Rückholvertrag mit der Plattenfirma außerordentlich geschickt ausgehandelt hatte.
Tragisch nur, dass der gefeierte Leadsänger der Screaming Androids nicht mehr sehr lange etwas von seinem Erfolg hatte. Wenige Monate später, genauer gesagt: einen Tag nach seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, starb er in den Armen einiger Groupies an Herzversagen – ausgelöst, wie die Obduktion ergab, durch eine Überdosis Heroin in Verbindung mit allzu reichlich genossenem Alkohol sowie vermutlich der körperlichen Überanstrengung, die Gruppensex so mit sich bringt.
Immerhin hatte Nick Corvin es so gerade eben noch geschafft, in den legendären Club 27 aufzusteigen und auf diese Weise zu einer noch größeren Legende zu werden, als er es bis dahin ohnehin schon war. »Wahrscheinlich«, schrieb die Rockmusikpresse am Tage nach seinem Tod, »singt und spielt er jetzt gerade da oben auf Wolke 9 ein Willkommenskonzert mit all jenen Giganten, die wie er im Alter von siebenundzwanzig Jahren von uns gegangen sind: Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain, Amy Winehouse und wie sie alle heißen mögen. Dem Himmel, Leute, steht also eine heiße Party bevor!«
Eine heiße Party war auch seine einem Staatsbegräbnis ähnliche Beisetzung, die sich nur dadurch von einem solchen unterschied, dass sowohl der Sarg als auch der Leichenwagen über und über mit psychedelischen Motiven bemalt waren, dröhnende Rockmusik (natürlich die der Screaming Androids ) anstelle der sonst üblichen Kirchenlieder gespielt wurde und eine größere Anzahl von weiblichen Fans vor und während der Beerdigung auf verschiedenste Art und Weise Selbstmord beging. Diese Selbstmordwelle endete überraschenderweise in genau jenem Augenblick, als der Sarg in der Grube verschwunden war und trauernde Angehörige, Freunde und Bandmitglieder die ersten Schaufeln Erde auf den Ebenholzdeckel niederprasseln ließen, während ein Polizeikordon die heranwogenden Massen der an der Beisetzung teilnehmenden Fans notdürftig zurückzuhalten versuchte.
Seinen Hut hatte man Nick Corvin natürlich mit in den Sarg gegeben. Schließlich war er sein Markenzeichen gewesen und wohl auch so etwas wie sein Talisman. Womöglich würde er ihn in der anderen Welt ja noch brauchen, wenn er dort für andere abgeschiedene Seelen weiterhin Konzerte gab.
»Das ist unmöglich«, sagte Nicks Manager wieder, diesmal aber nur zu sich selbst, als er ein paar Tage später die neuesten Verkaufszahlen der Screaming-Androids -CDs in Händen hielt. Eigentlich hätten sie, genau wie es bei Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Jim Morrison der Fall gewesen war, dank Nick Corvins Tod noch einmal in ungeahnte Multi-Platin-Bereiche explodieren müssen. Genau das aber war nicht der Fall. Vielmehr waren sie sogar eingebrochen, und zwar zu genau demselben Zeitpunkt, an dem auch die Selbstmordwelle unter jungen weiblichen Nick-Corvin-Fans ein Ende gefunden hatte.
Dem Zeitpunkt, als der Sarg mit Nick Corvin darin in der Grube verschwand.
Als die Verkaufszahlen sich auch in den nächsten Wochen nicht wieder erholten, geriet Nicks Manager ernsthaft ins Grübeln. Und dann wurde ihm auf einmal bewusst, dass nicht allein Nick Corvin unter der Erde verschwunden war.
Sondern auch sein Hut.
»Das ist unmöglich«, sagte Nicks Manager ein drittes Mal. »Aber trotzdem …«
Noch am selben Tag wechselten einige nicht unbeträchtliche Geldsummen ihre Besitzer. Als es Abend wurde, sperrte ein – diesmal eher unauffälliger – Polizeikordon erneut das Grab ab, in dem Nick Corvin seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Kurz darauf rückten ein paar Friedhofsgärtner an, räumten die Blumen und Kränze von der Grabstelle ab und stießen dann ihre Spaten tief in das noch lockere Erdreich. Nicks Manager stand dabei und schaute dem ganzen Vorgang mit wachsendem Entsetzen zu. Und ich habe Nick immer für verrückt gehalten , dachte er bei sich. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Und so nahm die Exhumierung ihren Lauf.
Als der Sarg freigelegt war, sprang einer der Friedhofsgärtner in das Grab hinunter und begann, die Verschraubungen des Sargdeckels zu lösen. Kaum war er damit fertig, folgte Nicks Manager ihm in die Grube.
»Bitte, Sir«, sagte der Gärtner und wuchtete den Deckel ein Stückchen zur Seite.
Der Hut hatte sich nicht verändert. Nick Corvin hingegen schon. Sein Gesicht war zwar noch einigermaßen gut erhalten, aber den Mund hatte er zu einem stummen Schrei aufgerissen, der sehr an ein gewisses Gemälde von Edvard Munch erinnerte, und seine ebenfalls weit aufgerissenen Augen schienen in ein Jenseits hinüberzustarren, das offenbar alle Schrecken der Hölle für ihn bereitzuhalten schien. Und vielleicht noch ein paar mehr, die sich Hieronymus Bosch und all die anderen großartigen Künstler des christlichen Abendlandes bisher nicht auszumalen gewagt hatten.
Grün im Gesicht und mit zitternden Händen nahm der Manager Nick den Hut ab und kletterte mühsam wieder aus der Grube heraus. Dann bedeutete er dem Friedhofsgärtner, den Sarg wieder zu schließen, und übergab sich in das nächste Gebüsch.
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