Für einige Stunden laden sie uns zu sich an Bord ein, um noch einmal, zwischen Seekarten und Konservendosen sitzend, zu planen und zu träumen, die Welt achteraus zu lassen und irgendwann wieder anzukommen.
Vielen Dank euch Weltumseglern. Für die Offenheit, mit der ihr über den Törn eures Lebens und den Weg dorthin berichtet habt – in Kajüten, Kaminzimmern, Kneipen oder über eine brüchige Skype-Verbindung. Ein Hoch auf eure Abenteuerlust, dank der zwischen den folgenden Zeilen die Erfahrung aus einer halben Million Meilen und rund 100 Jahren auf See fließt.
Kristina Müller, Hamburg 2017
Tatjana Hartmann und Thomas Witt mit SY BREAKPOINT, Mai 2004 bis Oktober 2009, Lübeck–Lübeck, 42.200 Seemeilen, 1984 Tage
1 Durchatmen am Ende der Welt
Kap Hoorn und weiter: Tatjana Hartmann und Thomas Witt und ihr Traumtörn in eisige Breiten
Thomas Witt, kurz Tom genannt, träumt davon, um die Welt zu segeln, ohne je einen Fuß auf ein Segelboot gesetzt zu haben. Er malt sich Kap Hoorn aus, den Ort, der mehr als jeder andere von Stürmen erzählt, von Schiffbruch und Abgeschiedenheit. Aber auch von Freiheit, grandioser Natur und Abenteuer. Von den Dingen eben, die der Meeresbiologe sein Leben lang gesucht hat. 1986 reist er mit dem VW Bus durch Afrika, arbeitet später als Tauchlehrer an entlegenen Winkeln der Welt. Für die Reise seiner Träume braucht er ein Schiff – und verliebt sich in die gutmütigen Aluminiumbauten aus der Feder Kurt Reinkes. Und schließlich in Tatjana Hartmann, die – welch Glück – segeln kann.
Hohe Breiten mit tiefen Temperaturen
Es bedarf keiner großen Überredungskunst, um Tatjana für seine Idee von der langen Reise zu begeistern. Zusammen suchen sie ein Schiff und finden in Emden eine Reinke 13M. Die Eisversion, mit Schotten und verstärkter Bodenplatte. Gerade fertig gebaut und von den Eignern nahezu perfekt für eben den Zweck ausgerüstet, der im Kopf des Paares spukt: weltweite Fahrt, in die hohen Breiten mit den niedrigen Temperaturen. Wie es der Zufall will, vereiteln Hund, Kind und Krankheit, dass die stolzen Erbauer selbst mit dem Schiff aufbrechen können. Ihr erster und einziger Törn ist der Testschlag mit Tatjana und Tom, bei dem der Funke endgültig überspringt. Tom verkauft einen Teil seines geerbten Grundstücks, um das Schiff zu kaufen. Eine Win-win-Situation, denn die Erbauer sind froh, dass wenigstens die Yacht die große Reise antreten wird.
Ihre BREAKPOINT legen die neuen Besitzer an einen Abschnitt der Trave, den Besucher nur finden, wenn sie ihr Ziel kennen. »Dort konnten wir auch sonntags flexen«, lacht Tatjana. In den folgenden vier Jahren verbringen die Hamburger jede freie Minute an Bord. Segeln, schrauben, planen. Sie arbeiten und legen jeden Euro, der nicht ins Schiff fließt, zur Seite. Kein Kino, kein Essengehen, keine neuen Klamotten. Im Alltag treffen sie die nötigen Vorbereitungen: Tom, der im Vertrieb eines Energieversorgungsunternehmens arbeitet, kann einen fünfjährigen unbezahlten Urlaub durchsetzen. Tatjana kündigt. Als Fachkrankenschwester für Anästhesie hat sie keine Sorge, später wieder eine Stelle zu finden. So bekommt der Plan vom Ausstieg auf Zeit konkrete Züge: Fünf Jahre, sie wollen nach Patagonien, in die chilenischen Gletscherkanäle. Rund Kap Hoorn. Danach? »Das war alles offen.«
Das erste schwere Wetter hinterlässt einen salzigen Vorgeschmack auf das, was sie abseits der Barfußroute erwartet.
Disziplin und Tatendrang ermöglichen es dem Paar, im Mai 2004 den Liegeplatz an der Trave zu verlassen – nicht ohne zuvor zu heiraten. Tatjana ist 36, Tom 44 Jahre alt. Es werden stürmische Flitterwochen auf See: Das erste schwere Wetter erwischt sie schon auf der Nordsee und hinterlässt einen salzigen Vorgeschmack auf das, was sie abseits der Barfußroute erwartet. Denn dass sie die Segelhighways verlassen wollen, ist klar. In Schottland tanken sie Diesel und Kraft und entscheiden sich aus Zeitmangel gegen die Passage der irischen Westküste. Denn noch im August wollen sie über die Biskaya segeln, bevor die ersten Herbststürme die Querung der Atlantikbucht in einen rauen Endspurt entlang des europäischen Festlandes verwandeln. Der Plan geht auf, und Portugal sagt sachte Adieu.
Dann knarren zwei Fragen in gebrochenem Englisch aus dem Lautsprecher: Wer seid ihr und wie viele?
Erst der nächste lange Schlag auf dem Atlantik, rüber nach Madeira, bringt einen Zwischenfall mit sich, der bei Tatjana und Tom noch heute Gänsehaut erzeugt. Die Sonne hat sich gerade zurückgezogen und die Nacht stockdunkel ihren Dienst angetreten, als ein Motorboot sich unnatürlich nähert. Tom nimmt Funkkontakt auf – keine Reaktion. Dann erst knarren zwei Fragen in gebrochenem Englisch aus dem Lautsprecher: Wer seid ihr und wie viele? Auf dem Radarschirm verfolgen die beiden Segler, wie offensichtlich zwei Beiboote ausgesetzt werden. Piraten oder Polizei? Die drei Schiffe kreisen BREAKPOINT ein, kommen bis auf 200 Meter heran. Toms weitere Funksprüche bleiben unbeantwortet. Schließlich setzt Segelyacht BREAKPOINT einen Notruf ab, den Amateurfunker an die Einsatzzentrale in Bremen weiterleiten. Als ahnten die Unbekannten, welche Notfallstaffel gerade zu laufen begonnen hat, drehen sie ab und verschwinden vom Radar. Tatjana und Tom atmen auf. Für den Rest der Nacht schalten sie die Positionslichter aus.
Reisen, um zu segeln, und segeln, um zu reisen
Die Atlantik- und die Äquatorüberquerung mit Kurs Brasilien sind Premieren für Schiff und Crew, die nun richtiges Blauwasserleben kennenlernt – und sich dabei von vielen Paaren auf Langfahrt unterscheidet: Es ist Tatjana, die Ozeanpassagen mehr abgewinnt als Tom. Sie genießt das Segeln und das Leben an Bord. »Das ist für mich, im wahrsten Sinne des Wortes, Freiheit.« Für Tom hingegen »war Ankommen stets wichtiger und das Schiff eher Mittel zum Zweck, Orte dieses Planeten zu erreichen, an die sonst keiner kommt«. Es ist auch Tatjana, die auf größere Segelerfahrung zurückblickt und für den Feintrimm zuständig ist. Auch wenn dieser, zugegeben, auf einem 16 Tonnen schweren Kimmkieler keine allzu große Rolle spielt.
Dennoch ist die Rollenverteilung an Bord in vielerlei Hinsicht klassisch. Tatjana navigiert, Tom repariert, manövriert und pflegt die Maschine. Die Frage, wer denn eigentlich Skipper sei, drängt sich dennoch auf. »Ja, das ist immer so ein Thema«, sagt Tatjana und lacht. »So ganz geklärt haben wir das nie.« »Aber wenn die Behörden im Hafen an Bord kommen und einen Mann und eine Frau sehen, bin ich automatisch ihr Ansprechpartner«, ergänzt Tom. Auf See teilen sie die Verantwortung und wechseln sich nachts im Drei-Stunden-Rhythmus ab.
Ein Virus ohne Gegenmittel
Sie will nicht mehr zurück in gesellschaftliche Zwänge und schlägt vor, das Haus in Deutschland zu verkaufen. Auszusteigen.
Die Ankunft in Rio de Janeiro hat das Duo sich anders vorgestellt: Kaum ist der Anker unter dem Zuckerhut gefallen, rasen sie mit Schlauchboot und Taxi zum nächsten Krankenhaus. Bei einem Segelmanöver war Tatjanas linker Ringfinger zwischen Block und Schot geraten. Das Resultat: ein durchtrenntes Sehnenband im Finger und eine stark blutende Wunde. Eine Verletzung, die heilt und schnell vergessen ist. Doch etwas anderes, nur schwer Heilbares (»schlimmer als ein Bakterium, denn dagegen gäbe es wenigstens ein Antibiotikum«), befällt die Krankenschwester: Der Langfahrtvirus erwischt Tatjana in Brasilien mit Macht. Sie will nicht mehr zurück in gesellschaftliche Zwänge und schlägt vor, das Haus in Deutschland zu verkaufen. Auszusteigen.
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